Münch, Ingo von, Frau, komm! Die Massenvergewaltigungen deutscher Frauen und Mädchen 1944/45. Ares, Graz 2009. 208 S., 11 Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.
Darstellungen, die sich mit Kriegsverbrechen der Alliierten befassen, werden von der etablierten Geschichtswissenschaft oft mit besonderer Zurückhaltung aufgenommen. Zu häufig stand der Vorwurf im Raum, es ginge bei der Auseinandersetzung insbesondere mit dem Bombenkrieg und mit den mit den Vertreibungen Deutscher einher gehenden Gräueln in Wahrheit nicht um die jeweilige Sache, sondern um die Verbreitung und Durchsetzung eines revisionistischen Geschichtsbildes, speziell um die Gegenrechnung deutscher Verbrechen des Zweiten Weltkriegs. Der Grazer Stocker-Verlag hat mit seinem nach dem griechischen Kriegsgott Ares-Verlag genannten Subunternehmen ein Forum für jene Stimmen abseits des historiografischen Mainstreams geschaffen, denen die bekannten großen Verlage aus dem genannten Grund Gehör und Unterstützung versagen. Dort hat auch Ingo von Münch, emeritierter Universitätsprofessor für Staatsrecht und Völkerrecht, erfahrener Kommunal- und Bundespolitiker der FDP, sein jüngstes Buch veröffentlicht, das sich mit dem Phänomen der von Soldaten der Roten Armee mit Masse im ehemaligen deutschen Osten begangenen Vergewaltigungen in den Jahren 1944 und 1945 beschäftigt.
Es muss außer jeder Diskussion stehen, dass dieses massive Unrecht von der Forschung systematisch aufgegriffen, in seinen realen Dimensionen erfasst und im Gesamtkontext des Zweiten Weltkrieges einer kritischen Beurteilung unterzogen werden muss. Leider liegen aber verlässliche Studien, wie sie Birgit Beck schon 2001 mit ihrer Untersuchung der vor deutschen Militärgerichten verhandelten Sexualverbrechen von Wehrmachtsangehörigen beispielgebend vorgelegt hat, bis dato für die von sowjetischer Seite zu verantwortenden Delikte nicht vor. Selbst das erst jüngst erschienene Lexikon der Vertreibungen (2010), herausgegeben von Detlef Brandes, Holm Sundhaussen und Stefan Troebst, ignoriert die Existenz dieser gravierenden Übergriffe und verwehrt der Vergewaltigung nicht nur ein eigenes Lemma, der Begriff scheint als solcher und auch in Form von Synonymen nicht einmal im Sachregister auf. Dem gegenüber liegt eine doch beachtliche Anzahl an mündlich tradierten und meist erst mit einem gewissen zeitlichen Abstand zum Geschehen schriftlich fixierten Quellen vor, Zeugnisse von Opfern, Augenzeugen oder häufig auch von Dritten, die berichten, was ihnen zu Ohren kam. Wenn auch die Problematik solchen Materials, wie es vor allem in der fünfbändigen, vom Bundesministerium für Vertriebene herausgegebenen Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa (1953-1962) und dem monumentalen Echolot-Projekt eines „kollektiven Tagebuchs“ (1993-2005) des Schriftstellers Walter Kempowski erfasst ist, offenkundig ist, erweist doch schon dessen erheblicher Umfang den bedeutenden Stellenwert des Themas.
Der Jurist Ingo von Münch ist kein Historiker; persönliche Erfahrungen und die Auffassung, dass „Massenvergewaltigungen deutscher Frauen und Mädchen 1944/45 zu den schlimmsten Verbrechen, die im Zweiten Weltkrieg begangen worden sind“, gehören, aber „in einer breiten Öffentlichkeit noch nicht die Aufmerksamkeit gefunden (haben), die ihnen gebührt“, und dass es sich „unzweifelhaft um Kriegsverbrechen handelte“ , weshalb „der Völkerrechtler sich dieses Themas annehmen“ sollte, haben ihn zur vorliegenden Arbeit motiviert (S. 9f.). Bereits beim ersten Durchblättern des Bandes wird deutlich, warum der Verfasser selbst von Teilen seines Buches als „einer Art Collage“ (S. 10) spricht, eine Gestaltungsform, die er sonderbarer Weise mit dem Bedürfnis nach Rücksichtnahme auf die Opfer rechtfertigt. Demnach dominieren über weite Passagen durch Einzug und kleineren Druck kenntlich gemachte Zitatenblöcke, die oft nur durch einige wenige kommentierende Sätze verbunden werden und damit eine breitere Darstellung mit entsprechender analytischer Durchdringung gar nicht zulassen.
Zugute zu halten ist dem Autor, dass er sich um die Erfassung des greifbaren Quellenmaterials, des einschlägigen Schrifttums und der medialen Verwertung des Themas bemüht. Der Film „BeFreier und BeFreite“ (1992) der Regisseurin und Feministin Helke Sander kommt ebenso zur Sprache wie das bekannte Berliner Tagebuch der Journalistin Marta Hillers, eines Vergewaltigungsopfers, die – obwohl bereits 2001 verstorben und in der Online-Enzyklopädie Wikipedia mit einem separaten Eintrag bedacht – bei Ingo von Münch mit dem in diesem Zusammenhang übertrieben erscheinenden Hinweis auf „ein Persönlichkeitsrecht, das auch und gerade nach dem Tode eines Menschen zu achten ist“ (S. 74, Fußnote 236), nur als „die Anonyma“ erscheint. Er nennt eine auf Hochrechnungen fußende, geschätzte Gesamtzahl in der Größenordnung zwischen 1,4 und 2 Millionen betroffener Frauen jeder Altersgruppe, was, wie er festhält, „die Massenvergewaltigungen deutscher Frauen und Mädchen schon vom zahlenmäßigen Ausmaß her gesehen beispiellos“ dastehen lasse (S. 15). Diese Taten seien rechtlich weder als Kollateralschäden noch als Repressalien zu rechtfertigen, da sie „nie das erklärte oder unerklärte Ziel (hatten), den deutschen Kriegsgegner zu veranlassen, von ihm begangene, noch andauernde Verletzungen des Völkerrechts zu beenden“, zumal „selbst nach der Kapitulation der deutschen Wehrmacht […] russische Soldaten weiterhin zahlreiche deutsche Frauen und Mädchen vergewaltigten“ (S. 48). Dieser dunkle Fleck auf dem Panier der Roten Armee beschäftige aber in Russland bis heute bestenfalls einige Schriftsteller, aber „nicht die russischen Politiker, Militärs und leider auch nicht die russischen Historiker“ (S. 97).
Zur Klärung der zentralen Forschungsfragen, ob sich denn nun entsprechende Befehle der sowjetischen Führung zur systematischen Durchführung von Vergewaltigungen oder zu deren Duldung nachweisen lassen und wie es um die Ahndung der Delikte durch die zuständigen Behörden in Theorie und Praxis bestellt war, kann der Verfasser allerdings nichts beitragen. Es bleibt ihm nur der vage Hinweis auf die Zielrichtung der hinlänglich bekannten Hass- und Propagandaaufrufe des Sowjetpublizisten Ilja Ehrenburg, wobei, wie er zugibt, selbst die Authentizität und die Urheberschaft eines als Schlüsseldokument gewerteten, als Aufforderung zur Schändung interpretierten Flugblatttextes „hier nicht exakt geklärt werden (kann)“ (S. 121).
Unter dem Strich bleibt ein Buch, das mit Recht Aufmerksamkeit für das Schicksal einer noch zu wenig beachteten Opfergruppe und ihr erfahrenes Unrecht reklamiert und damit hoffentlich zu einer - hier noch nicht geleisteten - breiten und vertieften, die Einsicht in die Anklage- und Spruchpraxis der sowjetrussischen Militärstrafbehörden einschließenden wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem wichtigen Thema anregt.
Kapfenberg Werner Augustinovic