Moralpolitik. Geschichte der Menschenrechte im 20. Jahrhundert, hg. v. Hoffmann, Stefan-Ludwig (= Geschichte der Gegenwart 1). Wallstein, Göttingen 2010. 437 S. Besprochen von Hans-Michael Empell.
Der Band geht auf eine
internationale Konferenz zurück, die im Juni 2008 am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung
Berlin abgehalten wurde. Zusammengestellt sind 14 Beiträge ausländischer, überwiegend
US-amerikanischer, sowie mehrerer deutscher Zeit- und Rechtshistoriker. Die
Beiträge der ausländischen Verfasser wurden ins Deutsche übersetzt. Der Herausgeber
Stefan-Ludwig Hoffmann beginnt mit einer gründlichen „Einführung. Zur
Genealogie der Menschenrechte“ (S. 7ff.). Darin behandelt er die Entstehung der
modernen Menschenrechtsidee (S. 10ff.), geht auf das „Verschwinden der Menschenrechte
nach 1800“ ein (S. 14ff.), als Begriffe wie „Nation“, „Zivilisation“ und
„Rasse“ in den Vordergrund rückten, und gelangt schließlich mit einer
Darstellung der „Universalisierung der Menschenrechte nach 1945“ (S. 23ff.) bis
in die Gegenwart. Am Ende der „Einführung“ heißt es programmatisch, die
Menschenrechte seien als „das Produkt einer globalen Gewalt- und
Konfliktgeschichte“ (S. 36) zu verstehen. Es gelte daher, eine „Geschichte der
Menschenrechte als Konfliktgeschichte“ (S. 37) zu schreiben. Die dem Buch
zugrunde liegende These lautet: Die Menschenrechtsidee hat sich nicht in einem historischen
Prozess kontinuierlichen Fortschritts gleichsam triumphal durchgesetzt. Es
besteht vielmehr ein untrennbarer Zusammenhang zwischen den Menschenrechten und
weltpolitischen Entwicklungen. Die Menschenrechte wurden und werden in einer
langen politischen Auseinandersetzung (zumeist kontrovers) definiert,
formuliert sowie in moralische und rechtliche, insbesondere völkerrechtliche
Normen überführt. Diese Bemühungen sind häufig damit verbunden, dass die
Menschenrechte für machtpolitische Ziele instrumentalisiert werden.
Teil I des Bandes trägt den
Titel: „Die Emergenz der Menschenrechte – Akteure, Regime, moralische
Imperative“ und beginnt mit einem Beitrag von Mark Mazowers: „Ende der
Zivilisation und Aufstieg der Menschenrechte. Die konzeptionelle Trennung Mitte
des 20. Jahrhunderts“ (S. 41ff.). Die bereits vom Herausgeber dargestellte
historische Entwicklung wird (wenn auch erst mit dem Wiener Kongress 1815 einsetzend)
neu beleuchtet. Der Autor vertritt die These, dass im politischen Diskurs und
im Völkerrecht bis 1945 das Konzept der Zivilisation vorherrschend war und erst
danach die Menschenrechtsidee ins Zentrum gerückt ist. Der folgende Aufsatz
stammt von Samuel Moyn: „Personalismus, Gemeinschaft und die Ursprünge
der Menschenrechte“ (S. 63ff.). Dargestellt werden die geistigen Ursprünge der
in zahlreichen modernen Menschenrechtsdokumenten verwendeten, grundlegenden Begriffe
der menschlichen Person und der Menschenwürde im Denken des einflussreichen, katholischen
Philosophen Jacques Maritain (1882-1973). Es wird gezeigt, dass diese Begriffe
sowohl gegen den „Kollektivismus“, das heißt: den Kommunismus, als auch gegen den
„Individualismus“, den kapitalistischen Liberalismus, gerichtet waren. Einen
vergleichbaren Ansatz verfolgt der Beitrag Glenda Slugas: „René Cassin: Les
droits de l’homme und die Geschichte der Menschenrechte, 1945-1966“ (S. 92ff.).
Behandelt wird das Menschenrechtsdenken des französischen Juristen, Diplomaten
und späteren Friedensnobelpreisträgers (1968) René Cassin (1887-1976), das von
den Idealen der französischen Revolution sowie von seinen Erfahrungen als Jude
geprägt war. Cassin war maßgeblich an der Ausarbeitung der am 10. 12. 1948 von
der UN-Generalversammlung verabschiedeten Allgemeinen Erklärung der
Menschenrechte beteiligt. Das völkerrechtliche Denken und politische Wirken eines
deutschen Juristen bildet das Thema des Aufsatzes Lora Wildenthals:
„Rudolf Laun und die Menschenrechte der Deutschen im besetzten Deutschland und
in der frühen Bundesrepublik“ (S. 115ff.). Danach haben die Menschenrechte in
Westdeutschland in den Jahren nach 1945 eine zweifache Bedeutung erlangt. Zum
einen wurden sie geltend gemacht, um das Bewusstsein der Westdeutschen für die
Verbrechen des NS-Regimes zu schärfen. Zum anderen beriefen sich Deutsche auf
die Menschenrechte, um die alliierte Besatzung anzuprangern. Der zweiten
Richtung wird Rudolf Laun zugerechnet. Auf der Basis des nationalen
Selbstbestimmungsrechts propagierte er ein Recht auf Heimat zugunsten der aus
den ehemals deutschen Ostgebieten Vertriebenen und setzte sich dafür ein, neben
den Staaten auch Nationen und Volksgruppen als völkerrechtliche Subjekte
anzuerkennen und ihnen ein völkerrechtliches Beschwerderecht einzuräumen. Jennifer
Amos ist die Autorin des Aufsatzes: „Unterstützen und Unterlaufen. Die
Sowjetunion und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, 1948-1958“ (S. 142ff.),
in dem sie eindrucksvoll schildert, wie die Allgemeine Erklärung der
Menschenrechte, bei deren Abstimmung in der UN-Generalversammlung (10. 12. 1948)
sich die Sowjetunion noch der Stimme enthalten hatte, als Instrument
außenpolitischer Propaganda und – nach dem Tod Stalins (1953) – unter
Chruschtschow auch innenpolitisch eingesetzt wurde, um das Sowjetsystem als dem
Kapitalismus moralisch überlegen zu legitimieren. Mikael Rask Madsen
behandelt in seinem Beitrag: „Legal diplomacy. Die europäische
Menschenrechtskonvention und der Kalte Krieg“ (S. 169ff.) die Entstehung des
europäischen Menschenrechtsschutzes, die, wie nicht anders zu erwarten, von den
Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges und dem Bestreben geprägt war, einer
Ausbreitung kommunistischer Regime über Osteuropa hinaus entgegenzuwirken.
Hervorzuheben ist die Feststellung des Autors, für die Entwicklung des
europäischen Menschenrechtsschutzes komme auch dem Prozess der Dekolonisation
große Bedeutung zu; er habe den entscheidenden Grund für die anfängliche
Zurückhaltung der damaligen Kolonialmächte Frankreich und Großbritannien bei
der Ausarbeitung eines europäischen Menschenrechtsschutzes gebildet (S. 194).
Teil II: „Nationale
Souveränität und die Verrechtlichung der Welt“ beginnt mit einem Aufsatz Kevin
Grants: „Die Menschenrechte und die staatliche Abschaffung der Sklaverei,
1885-1956“ (S. 199 ff.). Gezeigt wird, dass der seit Beginn des 19.
Jahrhunderts geführte Kampf gegen die Sklaverei zunächst als Teil einer Mission
für christliche Zivilisation, insbesondere auch für freien Handel, und erst später
als Durchsetzung der Menschenrechte verstanden wurde. Devin O. Pendas
stellt die Frage: „Auf dem Weg zu einem globalen Rechtssystem? Die
Menschenrechte und das Scheitern des legalistischen Paradigmas des Krieges“ (S.
226ff.). Unter dem „legalistischen Paradigma des Krieges“ versteht der Autor den
nach 1945 verstärkt unternommenen Versuch, zwischenstaatliche Kriege sowie Bürgerkriege
und andere Formen organisierter, militärischer Gewaltanwendung völkerrechtlich zu
regeln und insbesondere eine strafrechtliche Verantwortlichkeit von
Einzelpersonen und von Staaten zu begründen, die der Führung eines
Angriffskrieges, der Begehung von Kriegsverbrechen oder von Verbrechen gegen
die Menschlichkeit, einschließlich Völkermord, verdächtig sind. Im Zentrum der
Untersuchung stehen die Ausarbeitung der Konvention über die Verhütung und
Bestrafung des Völkermordes, die am 9. 12. 1948 von der UN-Generalversammlung verabschiedet
wurde, und die Bemühungen, das Völkerstrafrecht zu kodifizieren und
internationale Strafgerichte zu schaffen, die schließlich zur Errichtung des Internationalen
Strafgerichtshofs geführt haben (Statut von Rom, 17. 7. 1998). Fabian Klose
behandelt das Thema: „Menschenrechte, der koloniale Ausnahmezustand und die
Radikalisierung der Gewalt“ (S. 256ff.). Am Beispiel der Dekolonisierungskriege
in Kenia und Algerien geht der Autor der Frage nach, wie es kommen konnte, dass
Großbritannien und Frankreich einerseits als demokratische Staaten am
internationalen Menschenrechtsdiskurs teilnahmen und andererseits in ihren
Überseegebieten völkerrechtswidrige Kriege gegen antikoloniale Befreiungsbewegungen
führten. Während sich die antikolonialen Befreiungsbewegungen auf das Selbstbestimmungsrecht
der Völker und die Menschenrechte beriefen, erklärten die Kolonialmächte den
Notstand und schufen damit rechtsfreie Räume. Interessant wäre zu erfahren,
welche Positionen die in den Kolonialstaaten beheimateten Philosophen und Völkerrechtler,
die sich nach 1945 für einen internationalen Menschenrechtsschutz einsetzten, zum
Beispiel die bereits erwähnten Jacques Maritain und René Cassin, in dieser
Frage einnahmen. Im Aufsatz Glenda Slugas über René Cassin sind einige
Hinweise zu finden (vgl. S. 98ff.). Daniel Roger Maul widmet sich in
seinem Beitrag: „Die ILO und die Globalisierung der Menschenrechte, 1944-1970“
(S. 285ff.) der International Labour Organization, die 1919 als Einrichtung des
Völkerbundes ins Leben gerufen wurde, um „soziale Gerechtigkeit“ zu fördern,
durch eine „zweite Gründung“ 1946 als Sonderorganisation in das System der Vereinten
Nationen aufgenommen wurde und seitdem erklärtermaßen die „Menschenrechte“,
genauer: die wirtschaftlichen und sozialen Rechte der abhängig arbeitenden
Menschen, schützt. Andreas Eckert unternimmt es in seinem Aufsatz:
„Afrikanische Nationalisten und die Frage der Menschenrechte von den 1940er bis
zu den 1970er Jahren“ (S. 312ff.), die Debatten zum Thema Menschenrechte in den
Kontext der Geschichte des Kolonialismus und des afrikanischen Nationalismus zu
stellen, und gelangt zu dem desillusionierenden Resultat, dass die
antikolonialen Kämpfer, nachdem sie selbst an die Macht gekommen waren, „oft
dieselbe Arroganz gegenüber den kleinen Bauern und Händlern (zeigten) wie ihre
europäischen Vorgänger“ (S. 335). Anschließend behandelt A. Dirk Moses
das Thema: „Die Vereinten Nationen, humanitäres Engagement und die
Menschenrechte. Kriegsverbrecher- und Völkermordprozesse gegen pakistanische
Soldaten in Bangladesch, 1971-1974“ (S. 337ff.). Der Autor bezieht sich auf die
Abspaltung Ostpakistans (des späteren Bangladesch) von Pakistan, die dazu
führte, dass die pakistanische Armee gegen Zivilisten, insbesondere gegen
Intellektuelle, vorging, wobei es zu systematischen, massenhaften Tötungen
gekommen ist. Dargestellt wird, wie die Ereignisse in den westlichen Massenmedien
geschildert wurden und welche (geringfügigen) Maßnahmen die Vereinten Nationen dagegen
ergriffen. Der Untertitel des Aufsatzes ist missverständlich: Die von Bangladesch
angekündigten Strafverfahren gegen hochrangige pakistanische Offiziere und
Zivilisten sind gerade nicht zustande gekommen; im Gegenzug erkannte Pakistan
die Unabhängigkeit Bangladeschs an (S. 358ff.). Jan Eckel ist der
Verfasser des Beitrages: „’Unter der Lupe’. Die internationale
Menschenrechtskampagne gegen Chile in den siebziger Jahren.“ (S. 368ff.), in
dem er untersucht, welche Faktoren dazu führten, dass sich eine außergewöhnlich
starke internationale Kampagne gegen das Pinochet-Regime herausbilden konnte. Der
Autor gelangt allerdings zu dem Ergebnis, dass die Auswirkungen der Kampagne
auf die Politik des Regimes gering waren. In dem Aufsatz: „Charta 77 und die
Roma. Menschenrechte und Dissidenten in der sozialistischen Tschechoslowakei“
(S. 397ff.) untersucht Celia Donert den Menschenrechtsdiskurs, den
tschechische Oppositionelle in den letzten zwanzig Jahren sozialistischer
Herrschaft über die Rechte der Roma geführt haben. Der Band schließt mit
biographischen Angaben zu den Verfassern (S. 425ff.) sowie einem nützlichen Register,
das Namens- und Sacheinträge enthält (S. 429 ff.).
Der Leser würde gerne mehr über
den im Titel des Buches verwendeten Ausdruck „Moralpolitik“ erfahren. Der
Herausgeber teilt zwar in der Einführung (S. 7 Anm. 1) mit, dass 1789 in Wien
ein Werk diesen Titels erschienen ist, dessen Autor Nikolaus Paulsen heißt. Was
es mit dem Autor und der von ihm behandelten „Moralpolitik“ auf sich hat und
warum das vorliegende Buch den gleichen Titel führt, wird aber nicht erläutert.
Einige die juristische Terminologie betreffende Mängel sind zu verzeichnen, die
darauf zurückzuführen sein dürften, dass mehrere Beiträge aus dem Englischen
übersetzt wurden. Statt „internationales Strafrecht“ (vgl. S. 226 ff.) sollte
es besser heißen: „Völkerstrafrecht“. Der Terminus „internationales Strafrecht“
ist nicht eindeutig. Er bezeichnet auch die innerstaatlichen Normen, in denen
geregelt ist, unter welchen Voraussetzungen innerstaatliches Strafrecht im
Hinblick auf im Ausland begangene Taten gilt. Hier sind jedoch allein die völkerrechtlichen
Bestimmungen relevant, welche die Strafbarkeit von Individuen begründen; dafür hat
sich der Terminus „Völkerstrafrecht“ eingebürgert. Unglücklich ist auch (im
gleichen Beitrag, S. 226ff.) der Ausdruck: „legalistisches Paradigma des
Krieges“. Im Deutschen sollte das inhaltlich entsprechende Wort
„Rechtspazifismus“ verwendet werden. Gemeint ist der Versuch, Kriege mit den Mitteln
des Rechts, insbesondere des Völkerrechts, zu verhindern oder zumindest in ihren
Auswirkungen zu mildern („Frieden durch Recht“). Im Beitrag von A. Dirk
Moses (S. 337ff.) wird die International Law Commission (ILC), also die
Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen, als „Interne Justizkommission“
(S. 338) bezeichnet. Die S. 345 angesprochene „Internationale Juristenkommission
der UN“ ist dagegen nicht die International Law Commission, sondern die International
Commission of Jurists (ICJ), also die Internationale Juristenkommission, die jedoch
kein Organ der Vereinten Nationen ist, sondern eine Nichtregierungsorganisation.
Trotz dieser und einiger weiterer vergleichbarer Mängel lässt sich feststellen:
Der Ansatz, die Geschichte der Menschenrechte als Teil einer Gewalt- und
Konfliktgeschichte zu verstehen, in der Machtpolitik und Menschenrechte eng
miteinander verflochten sind, hat sich als fruchtbar erwiesen. Die Autoren
haben mit ihren Beiträgen, die durchweg gründlich gearbeitet und gut
geschrieben sind, eine solide Basis für weitere Untersuchungen geschaffen.
Heidelberg Hans-Michael
Empell