Meyer, Tim, Gefahr vor Gericht. Die Formstrenge im sächsisch-magdeburgischen Recht (= Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte 26). Böhlau, Köln 2009. XXIV, 278 S. Besprochen von Bernd Kannowski.

 

Glaubt Tim Meyer sich selbst in Gefahr vor Gericht? Hatte er bei Abfassung der Arbeit das Urteil vor Augen, das nach ihrem Erscheinen über sie ergehen könnte? Ich denke, dazu besteht kein Anlass. Das Ergebnis ist in vieler Hinsicht bemerkenswert. Zunächst wegen der sorgfältig abwägenden, zutiefst sach- und quellenkundigen sowie vorschnelle Ergebnisse unbedingt vermeidenden Argumentation (welche die Gefahr vor Gericht minimiert). Wohl nicht jeder wäre so zurückhaltend. Meyers Zurückhaltung aber ist zu begrüßen, und das nicht nur bereits aus grundsätzlichen Erwägungen. Wir bewegen uns auf einem Gebiet, das zum Spekulieren – wie ein Blick auf ältere Arbeiten ergibt – einzuladen scheint. Es geht um ein vermeintlich typisches Kennzeichen des deutschen mittelalterlichen Prozesses und damit um die grundsätzliche Frage nach seiner Andersartigkeit an wichtigen Punkten, die heutigen Vorstellungen kontrastierend – und somit auch mit didaktischem Wert – gegenübergestellt werden könnten. Die Rede ist von Formstrenge und der mittelalterlichen vare, nicht ungeschickt von Meyer frei übersetzt als „Gefahr vor Gericht“.

 

Meyer wurde mit dieser Arbeit im Jahr 2009 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster unter Betreuung durch Peter Oestmann promoviert. In seiner Dissertation geht Meyer der Fragen nach, inwiefern die in der älteren Literatur anzutreffende Auffassung, bereits minimale Abweichungen von vor Gericht einzuhaltender Form im Hinblick auf Verhalten und Formulieren könnten einschneidende Konsequenzen bis zum Prozessverlust zur Folge haben, einer kritischen Überprüfung anhand der sächsischen Rechtsquellen standzuhalten vermag. Diese Bezeichnung bedeutet für Meyer nicht die Eingrenzung auf ein fest umrissenes geographisches Gebiet. Gemeint sind vielmehr alle Quellen, die sich finden „wo sächsisches Recht galt“ (9). Diese untersucht der Autor auf breiter Grundlage. So geht es um Privilegien seit dem 12. Jahrhundert, Rechtsbücher des Land-, Lehn- und Stadtrechts sowie Schöffensprüche aus einer Vielzahl von Sammlungen.

 

Meyer unternimmt seine Quellenanalyse in fünf Schritten. In einem ersten geht es darum, in welchem Umfang die vare durch Privilegien beseitigt wurde (14ff.), in einem zweiten um Form und Formstrenge in einzelnen Prozesssituationen (54ff.), in einem dritten um „Die buchstäbliche Auslegung des Wortes“ (165ff.). Dabei handelt es sich in der Sache um ein ähnliches Problem wie das heute in § 133 BGB geregelte (165), nämlich darum, inwieweit mittelalterliche Schöffen dazu neigten, „an dem buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften“. Hier kommt Meyer zu dem Ergebnis, dass „die Schöffen … nicht beim Wortlaut Halt [machten]“ (266). Ein vierter Teil befasst sich mit der Frage, welche Möglichkeiten zur Korrektur eventuell begangener Formfehler bestehen („Erholung und Wandel“, 211ff.), wobei Meyer eine Neudeutung des Rechts der Erholung im Hinblick auf die wachsende Professionalisierung der Fürsprecher in Angriff nimmt (246ff.; 269). In einem fünften und letzten Schritt schließlich thematisiert Meyer „Die Ordnung vor Gericht“ (251-262). Nachdem es in den vier vorangegangenen Teilen um das „Verhandeln selbst“ ging, „steht nun die im Gericht herrschende Ordnung im Mittelpunkt, nicht das Verhandeln, sondern das Verhalten der Parteien.“ (251)

 

Eine wichtige Differenzierung im Hinblick auf das von Meyer behandelte Problem liegt darin, dass Formfehler nicht notwendigerweise Prozessverlust mit sich bringen mussten, sondern auch nur eine rein fiskalische Sanktion zur Folge haben konnten (53 u. ö.). Diese Unterscheidung hat in der älteren Literatur kaum eine Rolle gespielt. Überzeugend einfach und pragmatisch führt Meyer dafür die mittelalterliche Justizfinanzierung ins Feld: Staatliche Zuschüsse für nicht kostendeckend arbeitende Gerichte gab es – anders als heute – nicht. Einnahmequelle des Richters war sein Gewette. Es existiert also für ihn eine naheliegendes finanzielles Motiv, das Gewette wegen je nach Gewinnstreben mehr oder weniger als „Banalität“ zu qualifizierender Formalismen einzufordern, ohne dass das mit Sachfälligkeit irgendetwas zu tun haben muss (269). Auch beachtet Meyer überzeugend die Unterschiede von Landrecht und Stadtrecht und kommt zu dem Ergebnis, dass „der innere Formalismus des Rechts im Laufe des Spätmittelalters jedenfalls im Stadtrecht stetig zurück[ging].“ (267)

 

Die Arbeit ist erfrischend klar in Sprache und Aufbau. Nicht klar ist allerdings was Meyer meint, wenn er von „bloße[n] Rechtsgewohnheiten“ spricht. Die weitreichende und andauernde Diskussion um diesen Begriff mit allen methodischen Untiefen[1] scheint ihm nicht bekannt zu sein (79, 93 u. ö.). Meyer setzt sich in grundlegender Form mit Thesen der älteren Literatur auseinander. In methodisch vorbildlicher Weise formuliert er seine Befunde oft – wie bereits angedeutet – umsichtig als Wahrscheinlichkeiten mit allen verbleibenden Zweifeln. Mit viel Liebe zum Detail analysiert er mittelalterliche Prozesse und Rechtsvorschriften vor dem Hintergrund ihrer Entstehung, wobei zum Teil auch Abweichungen in der handschriftlichen Überlieferung Berücksichtigung finden. Nicht selten sagt Meyer, eine Deutung sei nicht zwingend und zeigt die anderen Möglichkeiten auf. So steht dann auch „[a]m Ende der Untersuchung … keineswegs die völlige Negation der Literaturthesen.“ Dennoch: „Das hergebrachte Bild vom kleinlich-formalistischen und dadurch unvorhersehbar-gefährlichen Gerichtsverfahren muss jedoch deutlich zurechtgerückt werden“ (263). So gelangt Meyer zu dem Ergebnis, formgebundene Erklärungen hätten im Prozess eine viel geringere Rolle gespielt als bislang angenommen und Form sei keineswegs vorschnell mit Formstrenge gleichzusetzen (264f.).

 

Anhand pragmatischer, auf ein möglichst gerechtes Ergebnis in einer Welt ohne naturwissenschaftliche Untersuchungsmethoden und infolge geringer Bevölkerungsdichte mit nur wenigen Tatsachenzeugen (157, 271) abzielenden Erwägungen vermag Meyer zu zeigen, dass Formalismen bei genauerem Hinsehen nicht so bizarr sein müssen wie sie auf den ersten Blick erscheinen mögen. Warum erfordert eine Klage auf Herausgabe eines Pferdes (Anefang), dass ich ihm auf seinen Huf steige und ihm gleichzeitig an sein Ohr greife? Vielleicht deshalb, weil ein seiner Natur nach scheues Tier sich diese Prozedur nur gefallen lassen wird, wenn es eben mein Pferd und deshalb wirklich vertraut mit mir ist (96, 271)? Auch hier räumt Meyer freimütig ein, es handele sich um nicht mehr als eine „schwerlich zu belegende Vermutung“. Dennoch: „Das kleine Beispiel soll anmahnen, den Sinn einer Form zu hinterfragen, bevor sie als lächerlicher Formalismus abgetan wird“ (271). Dass sich das in der Tat lohnt und wie man es tun kann, hat Meyer durch seine Arbeit gezeigt.

 

Freiburg                                                                                 Bernd Kannowski



[1] Martin Pilch, Der Rahmen der Rechtsgewohnheiten. Kritik des Normensystemdenkens entwickelt am Rechtsbegriff der mittelalterlichen Rechtsgeschichte, Wien 2009. Dazu meine Besprechung: http://www.koeblergerhard.de/ZRG128Internetrezensionen2011/PilchMartin-DerRahmenderRechtsgewohnheiten.htm, erscheint in: ZRG GA 128 (2011). Beiträge einer Tagung zu den Thesen von Pilch erscheinen in der nächsten Ausgabe der Zeitschrift „Rechtsgeschichte“ (Rg).