Machiavellismus in Deutschland. Chiffre von Kontingenz, Herrschaft und Empirismus in der Neuzeit, hg. v. Zwierlein, Cornel/Meyer, Annette unter redaktioneller Mitarbeit von Speek, Sven Martin (= Historische Zeitschrift Beiheft Neue Folge 51). Oldenbourg, München 2010. VII, 340 S. Besprochen von Christof Paulus.
Ein Brief des italienischen Emigranten und Bucer-Schülers Angelo Odoni aus dem Straßburg des Jahres 1535 an Erasmus von Rotterdam gilt als Erstbeleg für die Rezeption Machiavellis in deutschen Landen. In seinem Schreiben würdigte Odoni die papstkritische Haltung des Florentiner Sekretärs, dessen Schriften in zahlreichen italienischen Drucken (18 Editionen der „Discorsi“, 16 des „Principe“) Verbreitung fanden, ehe sie 1559 auf dem Index landeten. Dies wiederum machte ihren Autor gerade für protestantische Kreise interessant, wie allgemein ab den 1570er Jahren eine Kenntniszunahme der italienischen Politik und Kultur nördlich der Alpen festzustellen ist.
Eine internationale wie interdisziplinäre, 2007 in Tutzing am Starnberger See durchgeführte Tagung widmete sich dem begrifflich wie inhaltlich schillernden Phänomen „Machiavellismus“, das sich rezeptionsgeschichtlich von seinem vermeintlichen Urheber ablöste und dem in partieller und äußerst selektiver Weise schon bald die symbolhafte Vorstellung einer schrankenlosen, amoralischen Interessen- und Machtpolitik anhaftete. Die 15 Beiträge des anzuzeigenden Sammelbands untersuchen nun die Wirkungshistorie des Renaissanceautors vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart, so im Werk Johannes Althusius’ oder Hermann Conrings, bei Heinrich von Treitschke, August Ludwig von Rochau oder im Späthistorismus eines Friedrich Meinecke und Gerhard Ritters.
Ins Blickfeld rückt ferner das Phänomen des „Machiavellismus vor Machiavelli“ – so vermeinte etwa Tommaso Campanella 1633 im alttestamentarischen Ahitophel Züge der Lehren Machiavellis zu erkennen. Untersucht werden zudem bildliche Darstellungen Machiavellis auf Frontispizen ebenso wie die Phasen seiner Rezeption in der Eidgenossenschaft. Ein vermeintlicher Dreischritt Machiavelli-Nietzsche-Faschismus wird erörtert und infrage gestellt. Profilierung erfährt die Bedeutung des Florentiners im Werk Michel Foucaults und in der Empire-Vorstellung Michael Hardts und Antonio Negris. Eine ausführliche Interpretation gilt den in gelehrter Wechselwirkung verbundenen Machiavelli-Studien von Hans Freyer (1938) und René König (1940).
Insgesamt zeigen sich Bedeutung und Einfluss unterschiedlicher Rezeptionskontexte. Lässt sich in der Gelehrtengeschichtsschreibung, der historia literaria, von 1650 bis 1750 eine zunehmende Historisierung Machiavellis nachweisen, die seine Werke in ihre Entstehungsumstände einzubetten suchte, ist die Rezeption im 18. Jahrhundert allgemein durch eine radikalisierte Stereotypisierung gekennzeichnet. So konnten sich am Machiavellismus aufgeklärt-absolutistische aber auch republikanische Theorien anlagern. Das Bild im 16. Jahrhundert wiederum war durch eine gewisse Janusköpfigkeit bestimmt: So wurde der Machiavellismus als antiplatonisches Synonym für ein bösartiges Handeln wider eine gute Ordnung verstanden, andererseits galt Machiavelli als Fachautor, der mit modernem nüchternen Blick Herrschaftsmittel konkret benannte.
Diese „grandiose Gemüthlosigkeit“ Machiavellis, wie es Treitschke nannte, bedingte eine gewisse Rezeptionsoffenheit seines Werks. Methodik trennte sich von Programmatik, Herrschaftstheorie von Herrschaftspraxis, die Stimme des Florentiner Autors hallte durch die Jahrhunderte in unterschiedlichen Konstellationen und Zusammenhängen bei einem Spektrum von entrüsteter Ablehnung bis tiefer Wertschätzung wider. Dieses ideengeschichtliche Panorama mit dem Ansatz einer neuen Politikhistoriographie exemplarisch nachgezeichnet zu haben, ist das Verdienst des Sammelbands.
Seehausen am Staffelsee Christof Paulus