Löhnig, Martin, Die Justiz als Gesetzgeber. Zur Anwendung nationalsozialistischen Rechts in der Nachkriegszeit (= Rechtskultur Wissenschaft 1). Edition Rechtskultur/Gietl, Regenstauf 2010. 145 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Der Verfasser, der mit diesem Werk die von ihm und Ignacio Czeguhn herausgegebene neue Reihe Rechtskultur Wissenschaft eröffnet, befasst sich mit einer zeitgeschichtlichen interessanten Fragestellung. Sie betrifft die Anwendung der auf nationalsozialistischer Ideologie beruhenden, von 1933 bis 1945 geschaffenen und wegen Nichtaufhebung nach dem 8. Mai 1945 fortgeltenden Normen durch die 1945/1946 wiedereröffneten Gerichte. Exemplarisch nähert sie sich dem Umgang mit dieser Aufgabe an Hand der familienrechtlichen Normen der §§ 1595a BGB und 55 (bzw. 48) EheG, wobei der Verfasser sich unter anderem auf weit über zehntausend Verfahrensakten stützen kann, die ihm aus den Jahren 1946 bis 1949 vom Bayerischen Staatsarchiv in Amberg, dem Sächsischen Staatsarchiv in Dresden, dem Staatsarchiv in Freiburg im Breisgau , dem Bayerischen Staatsarchiv in Nürnberg, dem Landgericht Leipzig, dem Landgericht Offenburg in Baden und dem Bayerischen Justizministerium in München zur Verfügung gestellt werden konnten.

 

Er beginnt seine Untersuchung nach einer die Normgeschichte und die Problemstellung schildernden Einleitung mit der Ehelichkeitsanfechtung durch den Oberstaatsanwalt. Ausgewählt werden hierfür das Landgericht Amberg, das Landgericht Konstanz, das Landgericht Offenburg und das Landgericht Dresden. Als Zwischenergebnis kann er danach überzeugend festhalten, dass der Umgang mit § 1595a BGB nach 1945 ebenso uneinheitlich wie ahistorisch war, wobei eine Vereinheitlichung nur allmählich durch Absprachen und entsprechende Anweisungen bzw. eine Kassationsinstanz gelang und eine besonders aktive Rolle bei der Durchsetzung einer weitreichenden Anwendung des § 1595a BGB das Justizministerium Bayerns spielte.

 

Der zweite Teil des Werkes betrifft den Widerspruch gegen die Zerrüttungsentscheidung. Hierfür verwendet der Verfasser die Scheidungsurteile des Landgerichts Dresden von 1946, die Eheakten des Landgerichts Leipzig von 1949 und die Eheakten des Landgerichts Nürnberg von 1946. Sie erweisen ihm einen sehr unterschiedlichen Umgang mit § 48 EheG, der von der Unbeachtlichkeit des Widerspruchs des beklagten Ehegatten bis zur Beachtlichkeit des Widerspruchs in der Regel auch am gleichen Gericht reichte, insgesamt aber die Zerrüttungsscheidung nur für eine kurze Zeit vor allem des Jahres 1947 in einen älteren liberalen Kontext stellte.

 

Im Ergebnis sahen sich nach den sorgfältig ermittelten Erkenntnissen des Verfassers Richter und Staatsanwälte nach der Kapitulation vor die Aufgabe einer subsidiären Gesetzgebung gestellt, der gegenüber sie ziemlich orientierungslos reagierten. Deswegen begann rasch ein Kampf um die Deutungshoheit, obgleich etwa § 48 EheG kaum große praktische Bedeutung hatte. Er endete mit der Rückkehr des Gesetzgebers, der im Zuge der Spaltung der deutschen Rechtseinheit in der Bundesrepublik § 48 II EheG durch das Familienrechtsänderungsgesetz 1961 neu fasste  und § 1595a BGB in seiner bestehenden Fassung aufhob und in der Deutschen Demokratischen Republik auf der Grundlage der Rechtsprechung 1955 die Eheverordnung und 1966 das Familiengesetzbuch schuf.

 

Innsbruck                                                                   Gerhard Köbler