Lingen, Kerstin von, SS und Secret Service. „Verschwörung des Schweigens“ - Die Akte Karl Wolff. Schöningh, Paderborn 2010. 273 S., 8 Abb. Besprochen von Martin Moll.

 

Nachdem sich SS-Obergruppenführer und General der Waffen-SS Karl Wolff, Chef des Persönlichen Stabes des Reichsführer-SS, Heinrich Himmler, im Sommer 1942 um ein aufgestocktes Reichsbahnkontingent zwecks Deportation der Juden in die Vernichtungslager bemüht hatte, konnte er nach Erreichung dieses Ziels am 13. August 1942 befriedigt seinen Dank an Reichsbahndirektor Ganzenmüller abstatten: „Mit besonderer Freude habe ich von Ihrer Mitteilung Kenntnis genommen, dass nun schon seit 14 Tagen täglich ein Zug mit je 5.000 Angehörigen des auserwählten Volkes nach [dem polnischen Vernichtungslager, MM] Treblinka fährt und wir auf diese Weise in die Lage versetzt sind, diese Bevölkerungsbewegung in einem beschleunigten Tempo durchzuführen.“ (S. 190)

 

Derselbe Mann, der hier als einer der Organisatoren der Deportationen aktenkundig wurde, erfreute sich SS-intern – liebevoll als „Wölf(f)chen“ tituliert – geradezu rührender Fürsorge seitens seiner Kameraden. So schrieb Wolffs Kollege, der Höhere SS- und Polizeiführer in den besetzten Niederlanden, am 8. März 1943 an Himmler: „Dass nun auch Wölfflein an einem Nierenstein so schwer erkrankt ist, hat auch mich sehr gepackt, ich habe ihm heute geschrieben. Können Sie mir, Reichsführer, vielleicht einen Rat geben, womit ich dem Wölfflein eine besondere Freude machen könnte? Es gibt hier noch einen kleinen Vorrat, der zwar für die Ostfront reserviert ist, von dem ich aber das eine oder andere für Wölfflein heraussuchen könnte.“ (Bundesarchiv Berlin, NS 19/3167)

 

Beide Zitate charakterisieren die schillernde Persönlichkeit Wolffs, den einer seiner bisher lediglich zwei Biographen als den „Schlichter“ tituliert (Brendan Simms: Karl Wolff – Der Schlichter, in: Die SS: Elite unter dem Totenkopf. 30 Lebensläufe, hg. v. Ronald Smelser und Enrico Syring, Paderborn 2000). Folgt man Kerstin von Lingen, so fiel Wolff 1943 bei Himmler und damit SS-intern u. a. wegen seiner vom Reichsführer-SS nicht goutierten Ehescheidung in Ungnade und wurde nach Italien versetzt; Himmler soll Wolff sogar die Anrede „Wölffchen“ entzogen haben. Dem steht freilich ein bei v. Lingen nicht zitiertes Schreiben Himmlers entgegen, in dem Wolff noch am 30. Januar 1945 mit „Liebes Wölffchen“ tituliert wird (Bundesarchiv Berlin, NS 19/732).

 

Doch Kerstin von Lingen will keine Biographie Wolffs vorlegen, so dass man sich auch weiterhin mit Simms‘ Skizze sowie der auf Grund fehlender Nachweise nur eingeschränkt benutzbaren Arbeit „Der Adjutant“ des Journalisten Jochen von Lang wird behelfen müssen. Die Verfasserin setzt bei einem Ereignis an, das Wolff berühmt gemacht und seine mehr als fragwürdige Tätigkeit davor in den Hintergrund gerückt hat: Der von Wolff im März und April 1945 mit den Briten und Amerikanern verhandelten und schließlich paktierten, vorzeitigen Teilkapitulation der in Italien kämpfenden deutschen Heeresgruppe C, deren Waffenstreckung am 2. Mai 1945 – rund eine Woche vor der Gesamtkapitulation – wirksam wurde. Bei den Westalliierten erhielten die ebenso brisanten wie streng geheimen Gespräche den Decknamen „Operation Sunrise“.

 

Wolff verfügte über die Möglichkeit, diesen für einen hohen SS-Offizier ungewöhnlichen Schritt zu setzen, weil er seit dem Ausscheiden Italiens aus dem Achsenbündnis im September 1943 als „Höchster SS- und Polizeiführer“ in Italien amtierte und im Jahr darauf auch die militärische Kommandogewalt im Hinterland der Front übernahm. Nach einem leider sehr knappen Lebensabriss Wolffs schildert v. Lingen, wie es seit Jahresbeginn 1945 zu Kontakten der deutschen Verantwortlichen an der Italienfront mit dem Vertreter des US-Geheimdienstes OSS in der Schweiz, Allen W. Dulles, kam. Eine Kurzbiographie Dulles‘, von 1953 bis 1961 Direktor des OSS-Nachfolgers CIA und Bruder des US-Außenministers der Eisenhower-Administration, John Foster Dulles, schließt sich an. Dem zielstrebigen Wolff gelang es trotz zahlreicher technischer Probleme und trotz des teilweisen Zögerns der – mehrfach wechselnden – Wehrmachtkommandeure, die Waffenstreckung unter Dach und Fach zu bringen, wenn auch erst 5 Minuten vor 12.

 

Erst im letzten Kapitel befasst sich die Autorin mit den westalliierten und Schweizer Motiven, sich, ungeachtet eines gesamtalliierten Verbots von Unterhandlungen mit SS-Offizieren sowie einer deutschen Teilkapitulation, auf die Gespräche mit Wolff einzulassen. Abgesehen von der auf der Hand liegenden Rettung von Menschenleben weist sie darauf hin, dass das Gelingen von „Sunrise“ im Falle fortgesetzten deutschen Widerstands im Reich erstens das Umgehen der ebenso legendären wie (grundlos) gefürchteten „Alpenfestung“ ermöglichte und zweitens den Briten und Amerikanern ein rasches Vorstoßen auf das geostrategisch wichtige Gebiet um Triest gestattete, das auf diese Weise Titos Partisanen und deren sowjetischen Protektoren entzogen blieb. Auch v. Lingen konnte nicht restlos klären, ob der Deal mit Wolff bzw. der kapitulationswilligen Gruppe im Stab der Heeresgruppe C beinhaltete, die sich ergebenden deutschen Verbände unter Waffen zu halten, um sie bei Bedarf gegen Tito und die Rote Armee marschieren zu lassen („Operation Unthinkable“). Schlecht kommt in diesem Kapitel wie im ganzen Buch die Schweiz weg, der v. Lingen höchst eigensüchtige Motive für deren Vermittlerdienste sowie eine Verletzung ihrer Neutralitätspflichten zuschreibt. Abgesehen davon, dass man in dem manifesten Interesse der Schweizer, das Übergreifen von Kampfhandlungen auf ihr Gebiet im zu befürchtenden Chaos eines deutschen Zusammenbruchs zu verhindern, kein unehrenhaftes Motiv erkennen kann: Gehört es nicht gerade zum Kern der vielfach gehandhabten Neutralitätspolitik (nicht unbedingt des Neutralitätsrechts), Kriegsparteien „gute Dienste“ als Vermittler anzubieten?

 

Im Mittelpunkt des Buches steht jedoch die Frage, ob Wolff als der treibenden Kraft der Teilkapitulation irgendwelche Immunitätsversprechen seitens der Westalliierten gemacht worden sind und wie deren Umsetzung erfolgte. Nach umfassender Auswertung der mittlerweile zugänglichen Geheimdienstakten wie auch der privaten Nachlässe der Protagonisten kann v. Lingen die erste Frage bejahen, wenn es auch keine schriftlichen Zusagen gab. Vielfach belegt ist, dass der Sunrise-Freundeskreis bis weit in die 1960er Jahre hinein zahlreiche und bestens koordinierte Anstrengungen unternahm, um Wolff vor der bei seinem hohen SS-Rang eigentlich naheliegenden Strafverfolgung zu schützen. Im Zentrum dieser Bestrebungen standen Dulles und sein OSS-Kreis, denen es gelang, alliierte Strafverfolgungs- und Besatzungsbehörden auf ihre Seite zu ziehen. Dabei handelte es sich überwiegend um ein amerikanisches Unternehmen, bei dem die Briten sekundierten. Etwas irreführend erscheint daher das auf den britischen Geheimdienst hinweisende „Secret Service“ im Buchtitel. Offenbar konnte die Verfasserin dem Wortspiel mit SS nicht widerstehen.

 

Die Bestrebungen zum Schutz Wolffs beglichen weniger eine Dankesschuld, wenngleich die vielfach bekundeten Sympathien alliierter Funktionsträger für den smarten „Gentleman“ Wolff nicht zu übersehen sind. Wichtiger war, ihn am Ausplaudern der Details von „Sunrise“ zu hindern, denn deren anti-sowjetische Stoßrichtung galt noch lange nach Kriegsende – selbst mitten im Kalten Krieg – als heißes Eisen. Sehr detailliert schildert v. Lingen das jahrelange Hin und Her zwischen Ermittlungsbehörden in den USA, Großbritannien, Italien und Deutschland einerseits, Wolffs Beschützern andererseits. Letztere verbuchten einen ersten wichtigen Erfolg, als eine durchaus denkbare Anklage Wolffs im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess bzw. den Nürnberger Nachfolgeprozessen unterblieb; Wolff wurde nur als – freilich seit Mai 1945 inhaftierter – Zeuge befragt und, als Gefahr drohte, von seinen „Freunden“ in eine Nervenheilanstalt gebracht und so den Gerichten entzogen. 1948-49 musste Wolff sich in der britischen Zone einem Spruchkammerverfahren stellen, bei dem er in zweiter Instanz zu (bereits verbüßten) vier Jahren Haft verurteilt wurde. Angesichts Wolffs Stellung und Funktionen mag dies ein mildes Urteil gewesen sein; es stellt aber entgegen der Meinung der Verfasserin doch wohl keinen de-facto-Freispruch dar und auch die Anrechnung der Vorhaft bedeutete kein besonderes Entgegenkommen, sondern entsprach rechtsstaatlichen Standards.

 

Passagenweise entfernt sich die Arbeit recht weit von ihrem Hauptprotagonisten, indem sie allgemeine Themen wie Vergangenheitspolitik, das alliierte Kriegsverbrecherprogramm, aber auch Diskurse rund um die Deutungshoheit betreffend „Sunrise“ und den Italienkrieg breit ausführt. Der Leser versteht jedoch die Notwendigkeit dieses Vorgehens, weil nur solide Kenntnis der relevanten gesellschafts- und vergangenheitspolitischen Parameter und deren Veränderungen deutlich macht, warum Wolff am Ende der 1950er Jahre erneut ins Visier der bundesdeutschen Justiz geriet. 1964 wurde er nach mehrjähriger Untersuchungshaft wegen seiner aktiven Rolle bei den Judendeportationen zu 15 Jahren Haft verurteilt; der als CIA-Chef Ende 1961 gefeuerte Dulles und sein Zirkel, mittlerweile durchgängig Pensionäre, hatten dies nicht verhindern können, setzten sich aber unvermindert für Wolffs Freilassung ein, die schließlich Mitte 1969 aus Gesundheitsgründen erfolgte. Bis zu seinem Tod 1984 spielte der umtriebige und geltungssüchtige Wolff nun den „Zeitzeugen“.

 

Man mag das Erstaunen der Verfasserin darüber, dass es in der Politik ungeachtet offiziell verkündeter hehrer Ideale immer Kompromisse gab und gibt, darunter nicht wenige faule, etwas naiv finden. Dennoch verblüfft die Kaltschnäuzigkeit, mit der höchste Repräsentanten der USA, sekundiert von ihren britischen Verbündeten, viele Jahre lang und mindestens zeitweilig auch erfolgreich ihre schützende Hand über einen Mann hielten, dessen blutbefleckte Hände sie nicht wahrhaben wollten. Diesen mit „Verschwörung des Schweigens“ treffend umschriebenen Vorgang auf Basis einer beeindruckenden Literatur- und Quellenfülle in allen Verästelungen ans Licht geholt zu haben, stellt das bleibende Verdienst dieser Studie dar. Mit ihrem Schwerpunkt auf der justiziellen Ahndung von Kriegsverbrechen hat sie dem Rechtshistoriker viel zu bieten, während der Zeitgeschichtler die Einbettung des Falles Wolff in das allgemeine Zeitgeschehen zu schätzen wissen wird. Nur schade, dass der Text zahlreiche formale Schwächen (sprachliche Unebenheiten, grammatikalische Fehler, uneinheitliche Zitierweisen etc.) aufweist. Leser, die sich rasch über v. Lingens Forschungen informieren wollen, können auf zwei Aufsätze der Autorin zurückgreifen, die jeweils Kurzfassungen des Buches in deutscher und englischer Sprache bieten (Holocaust and Genocide Studies 22, 2008 sowie Militärgeschichtliche Zeitschrift 68, 2009).

 

Graz                                                                                                   Martin Moll