Leonhardt, Jürgen, Latein - Geschichte einer Weltsprache. Beck, München 2009. 339 S., Abb. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Als zum 1. Januar 1900 im Deutschen Reich das Bürgerliche Gesetzbuch in Kraft trat, verlor zugleich das aus der römischen Antike in lateinischer Sprache überkommene, im Heiligen römischen Reich seit dem 12. Jahrhundert allmählich mehr und mehr rezipierte und in der frühen Neuzeit in modernen Gebrauch genommene römische Recht seine unmittelbare praktische Bedeutung für die Rechtswissenschaft. Von daher ist auch für die Rechtswissenschaft die Antwort des Sachkenners auf die Frage, ob Latein eine tote oder eine lebende Sprache sei, von Interesse. Der in Lahr 1957 geborene, in München 1985 promovierte und 1994 habilitierte, im gleichen Jahr nach Rostock, 1997 nach Marburg und 2004 nach Tübingen berufene Verfasser bietet sie auf der Grundlage seiner Forschungsschwerpunkte der klassischen lateinischen Literatur, der Philosophie in Rom, der Wirkungsgeschichte der lateinischen Sprache und Kultur in Europa und der neulateinischen Literatur in vermittelnder, durch das Bild eines gerüsteten Römers auf einer Vespa aus Dreharbeiten zu Fall of the Roman Empire versinnbildlichter Form aus der Sicht von Sprachwissenschaft und Literaturwissenschaft: Latein sei tot, weil es von niemand als Muttersprache gesprochen werde, und doch sei Latein lebendig, solange es überhaupt von Menschen gesprochen und geschrieben werde.

 

Der Verfasser gliedert sein gut lesbares, mit Anmerkungen am Ende, einem Literaturverzeichnis und einem Register versehenes Werk insgesamt in fünf Teile. Zunächst nähert er sich Latein als Weltsprache in Beziehung zu den Nationalsprachen und den historischen Kultursprachen der Welt vorsichtig systematisch an, wobei er darauf hinweist, dass die lateinischen Texte der Antike in etwa 500 Bänden zu je 500 Seiten (davon 80 Prozent oder 400 Bände christliche Texte der Spätantike) unterzubringen sind, denen vielleicht 5 Millionen gleich starke Bände mit späteren lateinischen Texten gegenüberstehen. Danach behandelt er Latein von den Anfängen bis zum Ende der Antike und stellt es dabei überzeugend dem Griechischen einschließlich der griechisch-lateinischen Zweisprachigkeit gegenüber.

 

Der dritte Teil widmet sich dem lateinischen Jahrtausend Europas vom Beginn des Mittelalters bis etwa 1800. Daran schließt der Verfasser die Beschränkung des Lateinischen auf die Bildungssprache seit etwa 1800 an. Nach seiner ermutigenden Ansicht hat im Wechsel von der Philologie zur Kultur aber auch heute Latein noch eine Zukunft, die sich allgemein für historische Sprachen und das Schriftkulturerbe der Welt dann ergibt, wenn man sich wieder klarer dazu bekennt, dass ihr Zugang über das Erlernen und das Beherrschen von Sprachen führt und zwar Sprachen im vollen Sinne des Wortes, weil sich die für Latein spätestens seit dem 18. Jahrhundert einsetzende Entwicklung, zwischen der Funktion als Mittel der Kommunikation und der Funktion als Mittel der Formung des Geistes zu trennen und dabei das erste zu negieren und das zweite zu betonen, als nicht tragfähig erwiesen hat.

 

Innsbruck                                                                   Gerhard Köbler