Lehnstaedt, Stephan, Okkupation im Osten. Besatzeralltag in Warschau und Minsk 1939-1944. (= Studien zur Zeitgeschichte 82). Oldenbourg, München 2010. 381 S. Besprochen von Werner Augustinovic.
Für ein tiefer gehendes Verständnis historischen Geschehens ist heute neben der notwendigen Aufarbeitung struktureller Komponenten die Beschäftigung mit der Alltagsgeschichte unverzichtbar. Erst diese Art der Forschung am Puls des prallen Lebens kann historischen Erkenntnissen jene Plastizität verleihen, die sie allgemein nachvollziehbar macht und die in der Lage ist, eine Ahnung von Zeitgeist und Lebensgefühl einer geschichtlichen Epoche zu kreieren. Der deshalb von Kritikern wie Hans-Ulrich Wehler einst ins Treffen geführte Vorwurf eines „romantisierenden Neohistorismus“ ist in Anbetracht der nun engen Verzahnung beider Disziplinen jedenfalls nicht mehr haltbar.
Das belegt nicht zuletzt Stephan Lehnstaedts bei Hans Günter Hockerts und in enger Kooperation mit dem Institut für Zeitgeschichte in München erarbeitete, hier zur Besprechung anstehende Dissertation aus den Jahren 2007/08. Die Arbeit bemüht sich um diese „Zusammenführung verschiedener methodischer Konzepte“, denn Täterforschung müsse „die Pole Disposition und Situation komplementär vereinen und untersuchen, wie das Geschehen der Verbrechen in den Okkupationsalltag und die Besatzergesellschaft eingebunden war“, weshalb „über die Frage nach Plänen und Intentionen hinausgegangen“ werden müsse, wolle man den Völkermord im Osten als „arbeitsteilige Kollektivtat“ hinreichend begreifen. Die Kardinalfrage laute: „Was sind die Bedingungen, die so viele Deutsche aktiv an der Besatzung und der mit ihr verbundenen Gewalt teilnehmen ließen?“ (S. 16f.)
Die im damaligen Generalgouvernement Hans Franks gelegene polnische Millionenmetropole Warschau und – als ergänzendes Vergleichselement - das dem Generalkommissariat Weißruthenien unter Wilhelm Kube (ab September 1943 unter Curt von Gottberg) zugehörige, mit 240.000 Einwohnern wesentlich kleinere Minsk bilden das lokale Setting der Untersuchung. Obwohl sich die beiden Städte durch bestimmte, die Besatzergesellschaft prägende Konstellationen grundsätzlich unterschieden (so fiel beispielsweise im relativ sicheren Warschau im Alltag der deutschen Besatzer dem Ghetto eine bedeutende Rolle zu, während in Minsk die durch Partisanenaktivitäten hervorgerufene, stets prekäre Sicherheitslage die Atmosphäre wesentlich prägte), gelangt die Studie dennoch zu signifikanten, auf beide Regionen gleichermaßen zutreffenden Ergebnissen, wie etwa zur Feststellung: „Der Mord an der jüdischen Bevölkerung war im Osten eine Angelegenheit, die weithin akzeptierter Bestandteil des Besatzeralltags war“ (S. 285); „ein Einsatz im Osten ohne Kenntnis der Judenvernichtung, selbst wenn deren Gesamtbild unklar blieb, ist nicht denkbar“ (S. 292).
Um dermaßen deutliche Schlüsse ableiten zu können, muss der Verfasser zunächst die Struktur der Besatzergesellschaft einer eingehenden Analyse unterziehen. Er prüft, welche Funktionsgruppen (Wehrmacht, SS und Polizei, Verwaltung, Zivilisten, Volksdeutsche) mit welchen Aufgaben wirksam wurden, und zeigt auf, in welcher Weise die Führung Dienstbetrieb und Freizeit zu normieren trachtete, welche Normen in welchem Umfang in der Praxis missachtet und welche Verstöße unter welchen Umständen streng sanktioniert wurden. Ein zentrales Element der Erkenntnis ist ihm der Pierre Bourdieu entlehnte Begriff des Habitus, also „diejenigen menschlichen Ausdrucksformen […], die die Aufgabe haben, die gesellschaftliche Position eines Akteurs in sozialen Situationen anzuzeigen, die nicht ausreichend durch Kontextbeziehungen – etwa den sozialen Austausch im Berufsalltag oder im Kontext von Freundesbeziehungen – definiert sind“ und die somit helfen, „in neuen Situationen ohne Erfahrungshintergrund der eigenen sozialen Stellung gemäß zu handeln“ (S. 197). Im Umgang mit den Okkupierten sorgte der Besatzungshabitus dafür, „erstens die eigene Stellung als überlegener ‚Herrenmensch‘ zu demonstrieren, zweitens daraus die Legitimation zu ziehen, Drohungen und Gewalt trotz offiziellen Verbots anzuwenden, und drittens – trotz des geringen Interesses der Strafverfolgung an Verbrechen der Deutschen an den Einheimischen – dabei vorsichtig und ohne großes Aufsehen vorzugehen“ (S. 210). Dessen Aneignung war daher im Einklang mit den spezifischen Bedingungen der Besatzungssituation, die der Verfasser differenziert in ihren unterschiedlichen Wirkzusammenhängen darstellt, entscheidend verantwortlich dafür, dass die Schwelle zur Akzeptanz und moralischen Rechtfertigung von Gewaltakten dermaßen sinken konnte. Lehnstaedt zeigt an konkreten Fällen, dass Willkürakte und Verbrechen wie Diebstahl, Erpressung und selbst Vergewaltigung möglich waren, ohne dass die Täter viel zu befürchten gehabt hätten, wurde nur der vorhin genannte Rahmen eingehalten. Erzwungen wurde die Durchsetzung von Normen erst dann, „wenn (1) einer breiteren Öffentlichkeit Verbrechen bekannt geworden waren; (2) Vergehen gegen die Disziplin oder den Kameradenkreis vorlagen; (3) Kernelemente der nationalsozialistischen Weltanschauung verletzt worden waren, wie es beispielsweise bei Rassenschande oder Kritik an der Führung der Fall war“ (S. 336). Die auf Rasse und Lebensraum beruhenden Normen des Nationalsozialismus erklärten somit „Gewalt […] durch eine Normverschiebung zur Normalität – sie konnte deshalb auch von ‚normalen‘ Menschen begangen werden“ (S. 312).
Diese Gewalt, ausgeübt nach der Typologie Herbert Jägers in Form von Befehls-, Initiativ- und Exzesstaten, forderte „in Warschau und Minsk zusammengenommen annähernd eine Million Opfer“ (S. 255); nach 1945 wurden aus den Reihen der Besatzer nur verhältnismäßig wenige und exponierte Täter dafür zur Rechenschaft gezogen, vielen hingegen standen mit der bundesrepublikanischen Vergangenheitspolitik der Ära Adenauer ungebrochene Karrieremöglichkeiten im Staatsdienst offen. Eine drei Seiten umfassende Tabelle im Anhang (S. 341ff.), verkürzt entlehnt dem zweibändigen Werk Elżbieta Kobierska-Motas‘ (1991) über die Auslieferung von Kriegsverbrechern nach Polen, führt mit Namen, Nationalität (Deutsche, Österreicher und - in großer Zahl - Volksdeutsche vor allem rumänischer und jugoslawischer Herkunft), Anklagegrund und Strafausmaß jene ehemaligen Warschauer Besatzer an, die von den Besatzungsmächten zwischen 1946 und 1950 aus Deutschland an Polen ausgeliefert worden sind.
In seiner Einleitung geht der Verfasser unter anderem kritisch auf die Quellenproblematik ein. Ergänzend zur klassischen Behördenüberlieferung verlangt seine Fragestellung nach subjektiven Zeugnissen der Akteure in sogenannten Ego-Dokumenten. Darunter sind Feldpostbriefe und Tagebücher zu verstehen, vor allem aber auch Protokolle von Aussagen aus Ermittlungsakten der Nachkriegsjustiz, wie sie mit Masse in Ludwigsburg verwahrt werden. Obwohl mit vielerlei Vorbehalten behaftet und in ihrem quantitativen Repräsentationsgrad bisweilen fragwürdig, erlauben vor allem diese Unterlagen das Herausarbeiten spezifischer Muster und Verläufe und stellen somit unverzichtbare Informationen für die Erforschung des Besatzungsalltags im Osten bereit. Indem der erfreulich genau gearbeitete, mit den üblichen Materialverzeichnissen und einem Personenregister nicht allzu üppig aufgeschlossene Band die Mechanismen individueller und kollektiver Gewalt im Alltag der besetzten Städte darstellt und diesen Alltag wiederum in den Kontext der strukturellen Gegebenheiten der Besatzungsherrschaft stellt, trägt er nicht nur wesentlich zum Verständnis dessen bei, was dereinst geschah, sondern liefert darüber hinaus auch ein Modell für die gelungene - weil fruchtbringende - Synthese unterschiedlicher methodischer geschichtswissenschaftlicher Ansätze.
Kapfenberg Werner Augustinovic