Klenner,
Hermann, Historisierende Rechtsphilosophie. Essays (=
Haufe-Schriftenreihe zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung 21).
Haufe, Freiburg im Breisgau 2009. 708 S. Besprochen von Lukas Gschwend.
Der
Rechtsphilosoph Hermann Klenner legt mit 83 Jahren eine eindrucksvolle
Anthologie seines jüngeren Schaffens vor, welche beredtes Zeugnis nicht nur von
der Breite seiner Kenntnisse der europäischen Rechtsphilosophie und der
Fähigkeit zu kritischer Analyse ablegt, sondern in gewisser Weise auch seinen
von tiefgreifenden und schicksalhaften Wechselfällen begleiteten Lebensweg
widerspiegeln. Der ehemalige Baumgarten-Schüler, mal hoch gelobte, dann wieder
verschmähte frühere DDR-Rechtsphilosoph mit äußerst beeindruckendem
Forschungsnachweis gehört zu den wenigen Rechtsphilosophen im deutschen
Wissenschaftsraum, die neben methodischer Trittsicherheit über ein überaus
profundes Wissen in der juristischen Ideengeschichte verfügen und darüber
hinaus bereit sind, die aus ihrer Forschung gewonnenen Erkenntnisse in klare
und mitunter im besten Sinne belehrende Worte zu fassen. So gelangt Klenner in
seiner Einführung in die Grundfragen von Recht und Unrecht im Hinblick auf die
künftige Entwicklung von Recht und Staat zum Schluss, die heutige Gesetzgebung
vermittle den Eindruck, «dass das Recht zu den fungiblen Gütern unserer
Gesellschaft» gehöre. Das Gesetz werde oft aus opportunistischen Gründen
geändert und angepasst. Darunter leide die Rechtssicherheit. Der
Regelungscharakter des Rechts werde mit den Steuerungsaufgaben der Politik
verwechselt. Es folgen aufrüttelnde Angriffe auf den Neoliberalismus, die den
ideologisch zwar desillusionierten, doch in seiner Denkweise nach wie vor im
Marxismus ankernden Gesellschaftskritiker in hellem Licht erkennen lassen: «In
einer durchkapitalisierten Welt droht den von der Arbeiter- wie von der
Frauenbewegung erstrittenen sozialstaatlichen Regelungen die Gefahr, nur noch
als Palliative sozialer Gegensätze oder als Standortfaktoren im Rahmen einer
globalen Konkurrenz geduldet zu werden.» (S. 90). Große Gefahren erkennt
Klenner sodann in der gegenwärtigen Rechtsentwicklung auch für die
Individualrechte: «Sind doch die Bürgerrechte selbst gefährdet; also bedürfen
sie einer Verteidigung gegen den sich globalisierenden Neoliberalismus samt
seinen militärischen Interventionsmechanismen. Die Bürgerrechte legalisieren
nämlich den Handlungsraum für die erforderlichen sozialen Auseinandersetzungen;
also lohnt es sich gerade für diejenigen, die sich nicht zu Mitspielern an dem
sich national wie international brutalisierenden Realkapitalismus gemausert
haben, für deren Durchsetzung zu kämpfen: Die in ihren Normen als subjektive
Rechte eines jeden formulierten Ansprüche erleichtern den Fortschritt, wenn sie
wahrgenommen werden; ihr unvermeidliches Illusionspotential gilt es
aufzudecken; wie ihr Regelungsgehalt der Erweiterung bedarf.» (S. 91). Wiewohl
man ernst zu nehmende Gründe dafür finden wird, solchen Schlüssen und
Forderungen ihre rechtswissenschaftliche Stringenz abzusprechen und auf die
besonderen Gefahren einer normativen Ideologisierung der Rechtswissenschaft
hinzuweisen, beeindrucken diese deutlich formulierten Folgerungen aus einer
sorgfältigen ideengeschichtlichen Darstellung und Argumentation nicht nur durch
ihre Plausibilität, sondern auch, weil sie die potentielle Schärfe der
Rechtsphilosophie als Waffe notwendiger geisteswissenschaftlicher Kritik an
Recht, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft aufzeigt. Indem Klenner seine
Vorverständnisse zu erkennen gibt und sich einer transparenten Gedankenführung
bedient, weiß er die große Verantwortung im Umgang mit dieser Waffe
wahrzunehmen. Auch wenn die Verankerung im Marxismus verschiedentlich zu Tage
tritt, was mitunter zu einer eigenwilligen Interpretation der Geschichte führt,
geht Klenners Verständnis von Recht und Gerechtigkeit über die Enge des
dialektischen Materialismus' hinaus, ohne jedoch sich von diesem Ansatz
wirklich zu lösen. So beschließt Klenner das Werk mit einer Art
rechtsphilosophischem Testament unter dem Titel «Juristenaufklärung über
Gerechtigkeit. Ein Abgesang». Er kritisiert die Beliebigkeit, mit welcher
Religionen und Politik über den Begriff der Gerechtigkeit verfügen und weist auf
die große Zahl der in jüngster Zeit auf dem Markt erschienenen
«Gerechtigkeitsmonographien» hin. Gerechtigkeit müsse immer wieder neu gesucht
werden, aber nicht als Ausdruck frei schwebender religiöser und moralischer
Werte, sondern als Recht; nicht als Grundwerte, sondern als Grundrechte, welche
durch die Vernunft aus den Prinzipien der Freiheit und Gleichheit dialektisch
hergeleitet und zur Grundlage verfassungsmäßiger, verbindlicher, einklagbarer
subjektiver Rechte wurden. Die Betrachtung schließt im folgenden Appell: «Es
gehört zu den größten Leistungen der aufgeklärten, bis zum heutigen Tag
aufklärenden Rechtsphilosophie Europas, nur jenen Staat als gerecht zu
legitimieren, dessen Autorität aus der freien Entscheidung seiner Bürger
hervorgeht, und nur jenes Recht als gerecht anzuerkennen, dessen Autor und
Adressat letztlich identisch sind; nur einem solchen Recht sei Gehorsam
geschuldet. Solch eine Herrschaftsordnung nennt man Demokratie, und es handelt
sich bei ihr um nichts anderes als um eine Vergesellschaftung des Staates,
seiner politischen Macht. Welche Gründe, die für diese Vergesellschaftung
sprachen, sprechen eigentlich gegen eine Vergesellschaftung auch der
wirtschaftlichen und der medialen Macht? Solch eine Frage ernst zu nehmen, heißt
dem Gerechtigkeitsproblem eine Sichtweise zu eröffnen, die schließlich auf die
Widersprüche innerhalb der Macht/Ohnmacht-Struktur der Gegenwartsgesellschaft
als auf unsere Hoffnung setzt (sic!).» (S. 697).
Um
Missverständnissen vorzubeugen: Klenners rechtsphilosophische Aufsatzsammlung
versteht sich nicht als eine Rechtsphilosophie, welche durch zeitlich
distanzierte Betrachtung sich selbst relativiert, sondern als eine
ideengeschichtlich fundierte kritische Analyse rechtsphilosophischer,
rechtstheoretischer und rechtssoziologischer Grundprobleme, die bisweilen an
spezifischen Einzelfragen geknüpft behandelt werden. Die Sammlung umfasst über
dreißig in den vergangenen Jahren publizierte Beiträge. Neben Aufsätzen zu
Fragen von Recht und Gerechtigkeit und solchen zum marxistischen
Rechtsverständnis enthält der Band mehrere Studien zu Kant, Hegel, Feuerbach
und Lassalle sowie zwei Beiträge zum Corpus Juris Civilis, das Klenner zum
Erstaunen der Rechtshistoriker als Kodifikation bezeichnet und behandelt. Ihm
liegt allerdings weniger an einer differenzierten rechtshistorischen
Betrachtung als vielmehr an der rechtsphilosophisch als Paradoxon imponierenden
Feststellung, wonach der große «Gesetzgeber» Justinian als absolutistisch
regierendes Oberhaupt nicht nur das Gesetz zur Waffe des Staatschristentums
erhob, sondern zugleich die Philosophie verbot und damit gleichermaßen deren
tausendjährige griechische Tradition zu unterbinden wie auch das Recht von der
Philosophie zu lösen versuchte (S. 140). Damit ist auch Klenners Grundproblem
jeder Rechtsentwicklung «historisierend» verortet.
Weitere
Beiträge befassen sich mit englischen Denkern wie Hobbes, Locke, Milton oder
Godwin. Die Hervorhebung von Thomas Hobbes als Toleranzdenker mutet weniger
provokativ als vielmehr einseitig an. So versucht Klenner Hobbes'
Staatsphilosophie von totalitären Zügen zu reinigen, indem er unter Hinweis auf
eine Stelle aus dem Leviathan betont, die Zwangsgewalt des Staates dauere gemäß
Hobbes nur solange an, als der Staat in der Lage sei, die Bürger zu schützen.
Nun ist jedoch ein vorliberal verstandener civis im Spannungsfeld von
«protection and obedience» dem absolutistischen Staat zwangsläufig
weitestgehend ausgeliefert. Die staatliche Zwangsgewalt erstrecke sich, so
Klenner weiter, überdies nicht auf das innere Denken und den Glauben (S. 209).
Darin ist im Vergleich zum im 17. Jahrhundert üblichen Herrschaftsverständnis
von Kirche und Staat allerdings ein Zug von Toleranz bei Hobbes ersichtlich.
Klenners
«Historisierende Rechtsphilosophie» ist kein rechtsphilosophisches Lehrbuch und
auch keine systematische Grundlagendarstellung der juristischen
Ideengeschichte. Das Buch wird Studierende ansprechen, bisweilen wohl aber auch
verwirren. Auch berufene Rechtshistoriker und Rechtsphilosophen werden über der
einen oder anderen Eigenheit die Stirn runzeln, jedoch nicht in einer Weise,
die zum Weglegen des Buches führt, sondern vielmehr zum Weiterlesen und
Nachdenken anregt. Es ist freilich kein Werk, das sich nahtlos in die wachsende
Flut aktueller rechtsphilosophischer und rechtstheoretischer Schriften
einreiht. Nachdem das Bad des Marxismus nach 1990 nicht nur in der
Rechtsphilosophie sprichwörtlich mit dem Kind ausgeschüttet wurde, mögen solche
Studien vielleicht eine Kontinuitätsbrücke zu schlagen, welche den kommenden
Juristengenerationen neue Wege einer konstruktiv-kritischen Auseinandersetzung
mit der marxistischen Rechtsphilosophie eröffnen. Gerade darin liegt neben der
Eigenständigkeit der Darstellung und der Originalität des Denkens ein besonderer
Wert dieser vielfältigen, originellen Aufsatzsammlung.
St.
Gallen Lukas
Gschwend