Kiefer, Martin, Sebastian Derrer - ein Freiburger Rechtsgelehrter der frühen Neuzeit und sein Werk. Zugleich ein Beitrag zur Epoche der humanistischen Jurisprudenz (= Freiburger Rechtsgeschichtliche Abhandlungen Neue Folge 59). Duncker & Humblot, Berlin 2010. 354 S. Besprochen von Gunter Wesener.

 

Der Verfasser bietet mit seiner Freiburger Dissertation eine eingehende und überaus kompetente Darstellung von Leben und Werk des relativ wenig bekannten humanistisch geprägten Juristen Sebastian Derrer (ca. 1495 bis 1541).

 

In der Einführung (Teil A, S. 19-26) werden Forschungsziele, Forschungsstand und Quellen dargelegt. Hauptaugenmerk gilt den Arbeiten und der Arbeitsweise Derrers.

 

Teil B (S. 27-48) behandelt die Lebensstationen Derrers. In Nördlingen um 1495/96 geboren beendete er 1514 das Grundstudium der artes liberales an der Albertina, der Universität Freiburg im Breisgau, mit dem Bakkalaureat und erwarb um 1515 den Grad eines Magister artium. Zwischen 1515 und 1517 ist er als Vorsteher der städtischen Lateinschule in Freiburg nachgewiesen. Bereits 1516 war er gleichzeitig als Resumptor (Repetitor) an der Artistenfakultät der Albertina tätig. Seit dem Wintersemester 1517 wirkte er als hauptberuflicher Dozent im Fach Mathematik. Parallel zu dieser Tätigkeit widmete er sich dem Studium der Rechte, das er in etwa fünf Jahren absolvierte. Am 4. Dezember 1524 erfolgte seine Promotion zum Doktor iuris utriusque. Bereits für das Wintersemester 1524/25 war ihm die kanonistische Lektur über die libri sexti decretalium und zugleich die Vorlesung über den Codex Iustinianus übertragen worden. Im Allgemeinen galt der Kodizist (Ordinarius legum) als der vornehmste, ranghöchste Professor. In Freiburg im Breisgau bestand offensichtlich eine andere Gewichtung; hier war der Professor der Digesten Professor primarius. Nach dem Tode seines Lehrers Ulrich Zasius rückte Derrer mit 1. Dezember 1535 in diese Position auf (S. 36). Derrer bekleidete zahlreiche Universitätsämter; so war er achtmal Rektor der Albertina. Er verstarb am 30. Juni 1541, wahrscheinlich an der damals herrschenden Pestseuche (S. 41ff.).

 

Teil C (S. 49-61) ist allgemein der humanistischen Jurisprudenz, insbesondere dem Rechtsstil des mos gallicus gewidmet[1]. Die Bezeichnung dieses Rechtsstils als Gallica ratio docendi findet sich zuerst in einem Brief des österreichischen Juristen und Gräzisten Georg Tanner[2] an den Basler Rechtswissenschaftler Basilius Amerbach vom 7. November 1556 (S. 50). Die humanistisch geprägten Juristen des 16. Jahrhunderts zeigen ein Streben nach einem System. Ihre juristischen Texte und Lehrbücher führen Titel wie methodus, ars, ordo typus, syntagma oder oeconomia (S. 60). Derrer wählt für sein Werk noch den einfachen Titel ‚Iurisprudentiae Liber primus’. In der Epistola dedicatoria steht er aber ganz auf dem Boden der humanistischen Jurisprudenz (S. 60).

 

Der umfangreiche Teil D (S. 62 - 224) hat dieses Hauptwerk Derrers, den ‚Iurisprudentiae Liber primus’ zum Gegenstand. Das Werk erschien zunächst in Lyon 1540, eine zweite Ausgabe in Löwen 1552. Der Verfasser (S. 72ff.) prüft die Frage, welcher Literaturgattung das Opus zuzurechnen sei. Er kommt zum Ergebnis, dass es sich um keine Unterrichtsschrift handelt, sondern um eine systematische Darstellung, die wohl als Gesamtdarstellung konzipiert war. Im Liber primus, der das Personenrecht behandelt, wird eine Fortsetzung angedeutet: Denn die übrigen Kapitel, nempe quae ad iura rerum, commerciorum, atque persequutionum attinent, sind von keiner anderen Ordnung beherrscht als dieser, welche sich im Liber primus findet (Epistola dedicatoria, zitiert nach Verfasser S. 82 Fn. 328). Aufgrund mehrfacher Hinweise zeitgenössischer Autoren nimmt der Verfasser (S. 82ff.) wohl zu Recht an, dass das Werk auf zehn Bände angelegt war. Vermutlich war der zweite Band, der das Sachenrecht (iura rerum) enthalten sollte, schon weitgehend fertig gestellt, als Derrer am 30. Juni 1541 verstarb (Verfasser S. 85 u. 87).

 

Ein Exkurs (S. 94ff.) behandelt Derrers Mitteilung über angebliche Kodifikationsbestrebungen Kaiser Maximilians I. Die Frage, ob ein solcher Plan bestanden habe, ist höchst umstritten; starke Bedenken werden zu Recht gegen das Vorliegen eines solchen Projekts geäußert[3].

 

Ein zentraler Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit ist der rechtswissenschaftliche Systementwurf, den Derrer dem Liber primus in Form einer Kapiteleinteilung zu Grunde legt (S. 101ff.). Der Verfasser zeichnet zunächst das Systemschema im Original nach, wie Derrer es entworfen und dargestellt hat; danach wird dieses Schema anhand heutiger Gliederungskriterien erfasst. Das Hauptaugenmerk der vorliegenden Untersuchung liegt „mehr auf der Anordnung der zivilrechtlichen Thematik als auf der Wiedergabe von Standpunkten, die Sebastian Derrer zur einen oder anderen Thematik einnimmt“ (S. 109 Fn. 404). Ausgangspunkt seines Systems ist die iurisprudentia, worunter Derrer nicht nur die Rechtswissenschaft, sondern das Recht in seiner Gesamtheit versteht. Die iurisprudentia gliedert sich in ius (ius divinum und ius humanum) und iuris obiectum. Die iuris obiecta gliedert Derrer in die vier Kategorien persona, res, commercium und persecutio. Das Personenrecht ist Gegenstand des Liber primus; die drei anderen Bereiche werden bloß am Ende des Systemschemas erwähnt; sie sollten in den weiteren geplanten Libri behandelt werden (S. 121 und 154). Der Verfasser übersetzt commercium mit „Sachverkehr“ und persecutio mit „Rechtsverfolgung“ (S. 82). Das Personenrecht ist gegliedert in personae status, personae conditio und personae defensio (S. 122ff.).

 

Der Verfasser (S. 155ff., 165) kommt zum Ergebnis, dass Derrer sein Systemschema durchgehend nach der dihairetischen Methode[4] bearbeitet habe. Im Vordergrund steht bei diesem die Gliederung eines zentralen Begriffes, die Aufspaltung in dessen Teile. Das Hauptverdienst Derrers sieht der Verfasser (S. 182) darin, dass dieser versucht habe, „eine quellenunabhängige, leichter erlernbare Ordnung zu schaffen“.

 

Ein weiteres Kapitel (S. 184ff.) befasst sich mit Gliederung und Schwerpunkten des Darstellungsteils des Iurisprudentiae Liber primus. Äußerer und innerer Aufbau des Werkes werden eingehend dargestellt und analysiert.

 

Von großem Interesse ist die Resonanz von Derrers Werk in der Rechtswissenschaft (S. 199ff.). Dass dem Opus der erhoffte Erfolg versagt blieb, lag wohl vor allem daran, dass es ein Fragment blieb. Von den geplanten zehn Bänden erschien nur der Liber primus. Immerhin hat das Werk im Laufe der Jahrhunderte eine nicht unbedeutende Beachtung gefunden.

 

Teil E (S. 225-284) ist dem im ‚Typus Iurisprudentiae’ niedergelegten Gesamtsystem gewidmet. Dieser Typus Iurisprudentiae (Basel 1567) existiert nicht als eigenständige Ausgabe, sondern nur als Anhang einer Sammlung romanistischer und kanonistischer Rechtsschriften, die der Nürnberger Jurist Gregor Haloander im 16. Jahrhundert zusammengestellt hat. Entstanden ist der Typus Iurisprudentiae wohl vor dem Iurisprudentiae Liber primus, da Derrer im Typus bereits sein Gesamtsystem entwickelt hat, das dann in den zehn Libri ausgeführt werden sollte (S. 225ff.). Eingehend setzt sich der Verfasser (S. 236ff.) mit Derrers System und Gliederungsmuster auseinander. Aufgezeigt wird (S. 246ff.) die „Weiterentwicklung der Trichotomie der Institutionen (personae, res, actiones) zur Derrerschen Tetrachotomie (persona, res, commercium, persecutio)“. Die Bereiche res, commercium und persecutio werden einer sorgfältigen Analyse unterzogen (S. 250ff.). Bei den res incorporales von Privaten unterscheidet Derrer zwischen sachbezogenen und persönlichen Instituten (ex re sowie ex persona). Erbrecht und Obligationen werden im Bereich der res behandelt. Auch die Klagen werden den res untergeordnet (S. 252ff.). Unter „die dritte Hauptsäule der Derrerschen iuris obiecta“, das commercium, fällt der sachenrechtliche Erwerb, die acquisitio (S. 255ff.). Die vierte Hauptsäule der iuris obiecta, die Derrer persecutio nennt, behandelt die Rechtsverfolgung (S. 257ff.). Dabei geht es Derrer nicht um die im Einzelfall in Frage kommende actio, sondern um die mit einer gerichtlichen Verfolgung zusammenhängenden Grundprobleme. Der Verfasser (S. 259) gewinnt wohl zu Recht den Eindruck, dass Derrer seine wesentlichen Elemente aus dem im Mittelalter entwickelten römisch-kanonischen Zivilprozess nahm. Der Verfahrensablauf, der modus procedendi, wird im Einzelnen dargestellt. Aufgrund der beträchtlichen Abweichungen vom Institutionensystem schließt der Verfasser (S. 284) auf einen eigenständigen, aber auch eigenwilligen Charakter Sebastian Derrers.

 

Teil F (S. 254-295) behandelt schließlich eine weitere auf Derrer zurückgehende Schrift, die ‚Epitome Iurisdictionum et Regalium’, die auch nicht als eigenständiger Band, sondern als Anhang zu den ‚Trium Artium Logicarum, Grammaticae, Dialecticae & Rhetoricae, breves succinctique Schematismi’ des Freiburger Juristen und Philosophen Johann Thomas Freigius im Jahre 1568 zu Basel erschienen ist (vgl. S. 87f.). Geschaffen wurde diese Arbeit von Derrer wohl in den dreißiger Jahren des 16. Jahrhunderts und dann von Freigius kurz vor dem Druck zur Veröffentlichung bearbeitet. Die Epitome, die als ein Fragment der geplanten zehn Iurisprudentiae Libri zu betrachten ist, behandelt die Jurisdiktion und die Regalienrechte.

 

In der instruktiven Schlussbetrachtung (Teil G, S. 296-299) bezeichnet der Verfasser (S. 297) „Derrers revolutionär anmutende Durchbrechung der tradierten Legalordnung“ als „das eigentlich Bemerkenswerte“. Zu Recht betrachtet er ihn (vgl. S. 20 u. 182) als einen der ersten, wenn nicht als den ersten deutschen Rechtssystematiker humanistischer Prägung.

 

In eindrucksvoller Weise werden in der vorliegenden Untersuchung nicht nur Leben und Wirken Sebastian Derrers dargestellt, sondern vor allem auch Methode und System, die dessen geplanter zehnbändiger Gesamtdarstellung, den Iurisprudentiae Libri, zugrunde liegen sollten. Wir sind dem Verfasser für diesen Beitrag, der unsere Kenntnis der humanistischen Jurisprudenz wesentlich vertieft, zu Dank verpflichtet.

 

Graz                                                                                       Gunter Wesener



[1] Vgl. dazu I. Deflers, Der juristische Humanismus an der Rechtsschule von Bourges im 16. Jahrhundert, in: Europa und seine Regionen. 2000 Jahre Rechtsgeschichte. Hrsg. von A. Bauer u. K. H. L. Welker (Köln – Weimar – Wien 2007) 221ff.

[2] Zu diesem A. Eisenhart, ADB 37 (1894) 382f.; G. Wesener, Einflüsse und Geltung des römisch-gemeinen Rechts in den altösterreichischen Ländern in der Neuzeit (16. bis 18. Jahrhundert) (Wien – Köln 1989) 44; ders., Humanistische Jurisprudenz in Österreich, in: Festschrift zum 80. Geburtstag von H. Baltl (Wien 1998) 381ff.

[3] Vgl. auch F. Ebel, Über Legaldefinitionen (Berlin 1974) 91f.

[4] Dazu eingehend J. Schröder, Die ersten juristischen „Systematiker“. Ordnungsvorstellungen in der Philosophie und Rechtswissenschaft des 16. Jahrhunderts, in: FS für St. Gagnér zum 3. März 1996, hg. von M. Kriechbaum (Ebelsbach 1996) 111ff.; ders., Recht als Wissenschaft – Geschichte der juristischen Methode vom Humanismus bis zur historischen Schule (1500 – 1850) (München 2001) 82ff. Vgl. H. Hübner, Jurisprudenz als Wissenschaft im Zeitalter des Humanismus, in: FS für K. Larenz zum 70. Geburtstag (München 1973) 41 ff., insbes. 52ff.