Kelsen, Hans, Werke, Band 2 Veröffentlichte Schriften 1911, hg. v. Jestaedt, Matthias in Kooperation mit dem Hans-Kelsen-Institut, 2 Teilbände. Mohr (Siebeck), Tübingen 2008. IX, 1-432, VI, 13*, 433-1000 S.

 

Kelsen, Hans, Reine Rechtslehre. Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik, 1934, Studienausgabe, hg. v. Jestaedt, Matthias. Mohr (Siebeck), Tübingen2008. LXVI, 181 S.

 

Kelsen, Hans, Wer soll der Hüter der Verfassung sein? Abhandlungen zur Theorie der Verfassungsgerichtsbarkeit in der pluralistischen, parlamentarischen Demokratie, hg. v. Ooyen, Robert Chr. van. Mohr (Siebeck), Tübingen 2008. XXIII, 112 S. Besprochen von Thomas Olechowski.

 

„Die Rechtsgeschichte ... ist ein Zweig der historischen Disziplinen und als Kausalwissenschaft weit mehr mit der Naturwissenschaft und der Psychologie verwandt als mit der Jurisprudenz oder mit der Ethik. Vom methodologischen Standpunkte aus betrachtet, besteht zwischen Rechtsgeschichte und dogmatischer Jurisprudenz oder Rechtsphilosophie – wenn man die Gewinnung der Grundbegriffe des Rechtes so nennen will – keinerlei Verbindung, und nur sehr äußerlich ist die Beziehung, die beide Disziplinen in einer gemeinsamen ‚Rechtswissenschaft’ vereinigt“ (Hans Kelsen Werke 2, 55).

 

Der solches schrieb, hatte zu seinen Lebzeiten – nicht nur, aber auch wegen Äußerungen wie der obigen – unter den Rechtshistorikern nur wenige Freunde, aber viele erbitterte Feinde. Vielleicht mit ein Grund, weshalb sich die Rechtsgeschichte lange Jahre mit dem vielleicht bedeutendsten Juristen des 20. Jahrhunderts kaum beschäftigt hat und erst in jüngster Zeit das Interesse an ihm gestiegen ist. Denn wie man auch persönlich zur Reinen Rechtslehre stehen mag – wer sich mit der Entwicklung der Rechtswissenschaft in den letzten hundert Jahren beschäftigt, kann kaum an ihr vorbeigehen. Wer sich aber heute in Lehrbüchern und Nachschlagewerken ein erstes Bild von der Reinen Rechtslehre machen will, der wird nur zu oft in die Irre geführt, denn was er dort liest, ist in vielen Fällen schlecht abgeschrieben von Kelsens Kritikern und daher nur ein Zerrbild des Originals, leicht mit wenigen Sätzen zu widerlegen und abzutun. „Von jeher haben in der deutschen Staatsrechtslehre, der Kelsen bis zu seiner Emigration im Jahre 1940 zugerechnet werden darf, die Abwehrreflexe und Verweigerungsstrategien seinem ideologiekritischen Ansatz gegenüber Konjunktur gehabt“, schreibt Matthias Jestaedt in seiner Einführung zur Studienausgabe der „Reinen Rechtslehre“, und fügt hinzu, dass die deutsche Jurisprudenz diesen „Umgang mit Kelsen“ geradezu „internalisierte“, sodass sich zum „Unverständnis der Reinen Rechtslehre ... sehr bald auch deren Unkenntnis“ gesellte“ (XII ff).

 

Die vorliegenden, hier zu besprechenden Editionen sind vom Wunsch geleitet, dass Kelsen künftig im juridischen wie politischen Diskurs wieder direkt zur Sprache kommt und so der bleibende Wert seiner Arbeiten neu erkannt wird. Am umfassendsten widmet sich diesem Ziel das von Jestaedt geleitete DFG-Projekt einer historisch-kritischen Gesamtausgabe der Werke Kelsens. Es will nicht nur die insgesamt ca. 17.000 Seiten umfassenden bereits publizierten Schriften Kelsens, sondern auch noch dessen weit umfangreicheren wissenschaftlichen Nachlass nach modernen Editionsprinzipien herausbringen; die zu diesem Zweck 2006 gebildete Hans-Kelsen-Forschungsstelle an der Universität Erlangen-Nürnberg wird dabei vom Wiener Hans Kelsen-Institut sowie einem Gremium von Kelsen-Experten aus vier Kontinenten unterstützt (Näheres zum Projekt siehe unter http://www.hans-kelsen.org).

 

Bereits 2007 erschien der erste Band der „Hans Kelsen Werke“ (HKW) mit zwei autobiographischen Darstellungen Kelsens sowie mit seinen allerersten, zwischen 1905 und 1910 erschienenen Schriften. Der an dieser Stelle zu besprechende Band 2 enthält die  Habilitationsschrift Kelsens aus dem Jahr 1911, die „Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze“. „Auf 731 dicht bedruckten Seiten unternimmt es hier ein unbekannter und mittelloser Privatdozent aus Wien, die zentralen Dogmen der zeitgenössischen (Staats-)Rechtswissenschaft in Österreich und Deutschland zu zerstören“, schreibt Christoph Schönberger, der vom Projektleiter eingeladen wurde, eine Einleitung zu diesem Band zu verfassen (23). Zugleich hält Jestaedt selbst fest, dass Kelsens Habilitationsarbeit „alles andere als eine leicht zugängliche, einladende Schrift“ darstellt. „Vielmehr darf man sie getrost als sperriges Werk bezeichnen“ (902). Die „Hauptprobleme“ enthielten ursprünglich weder ein Sachverzeichnis noch eine zusammenfassende Schlussbetrachtung, sondern lediglich eine „aufschlussreiche Vorrede“ (die, wie der Herausgeber bedauernd feststellt, bereits bei dem 1923 besorgten Nachdruck und auch später niemals wieder abgedruckt wurde, somit in der gegenständlichen Edition erstmals wieder seit 1911); im übrigen wird dem Leser bzw. der Leserin tatsächlich zugemutet, sich durch mehr als 700 Seiten durchzuarbeiten, um zu erfahren, worin Kelsen die „Hauptprobleme der Staatsrechtslehre“ überhaupt erblickt.

 

Dazu gehören nämlich weder die Frage nach dem Geltungsgrund der Normen, noch nach deren hierarchischer Struktur, noch nach dem Verhältnis von Staat und Recht. Diese drei Punkte, die heutzutage wohl noch am ehesten auch Außenstehenden von der Reinen Rechtslehre bekannt sind, wurden von Kelsen erst in späterer Zeit aufgegriffen. Hier, in den „Hauptproblemen“, geht es um noch Grundsätzlicheres: Die Erkenntnis, dass das Recht seinem Wesen nach aus Normen bestehe, alle Rechtswissenschaft daher (ausschließlich) Normwissenschaft zu sein habe. Der im Untertitel der Arbeit genannte „Rechtssatz“ wird als „ein Zentralbegriff juristischer Konstruktion erkannt, durch dessen besondere Formulierung die Lösung einer Reihe von speziellen Problemen bedingt ist“ (51). Als solche werden insbesondere behandelt: Der Dualismus von Recht im objektiven Sinn und Recht im subjektiven Sinn, die Scheidung von privatem und öffentlichem Recht sowie schließlich so elementare Begriffe wie „Wille“, „Person“ oder „Organ“.

 

Das „Unternehmen HKW“ ist am ehesten vergleichbar mit der 1987–2003 bei C. F. Müller erschienenen Gesamtausgabe der Werke Gustav Radbruchs, aber noch um einiges ambitionierter als diese: Matthias Jestaedt zieht für die Edition nicht bloß den Originaldruck, sondern – soweit noch vorhanden – auch den Autograph Kelsens und die Korrespondenz mit dem Verlag heran (im Falle der „Hauptprobleme“ ist beides erhalten). Ein umfangreicher Anmerkungsapparat zeigt minutiös alle rekonstruierbaren Textstufen auf; in einem unglaublich arbeitsintensiven Verfahren werden sämtliche Zitate, die Kelsen in seinem eigenen Anmerkungsapparat tätigt, autoptisch überprüft und erforderlichenfalls kommentiert. Im Anschluss an den Text beschreibt ein editorischer Bericht (881-913) mit viel Liebe zum Detail die Quellenlage und rekonstruiert die Entstehungsgeschichte von Kelsens Habilitationsschrift.

 

Verständlich ist, dass bei den selbst gestellten hohen Ansprüchen an die Editionsbände die Produktion jedes einzelnen Bandes im Durchschnitt etwa ein Jahr benötigt. Angesichts des oben genannten Umfanges der zu edierenden Schriften wird klar, was schon die äußerst bibliophile Aufmachung der Bände verraten sollte: Diese Edition legt es auf Nachhaltigkeit an – freilich zu dem Preis, dass das Projekt voraussichtlich noch in mehreren Jahrzehnten nicht zum Abschluss gekommen sein wird. So ist mit der historisch-kritischen Edition von Kelsens 1934 geschriebener „Reinen Rechtslehre“ im Rahmen der HKW nicht vor 2018 zu rechnen, mit der 1960 verfassten zweiten Auflage derselben nicht vor 2030, der Zeitpunkt für das Erscheinen von Kelsens nachgelassenen Schriften wie etwa der „Allgemeinen Theorie der Normen“ in den HKW ist überhaupt nicht absehbar.

 

Da nur wenige von uns so lange warten können, und wohl auch um die Breitenwirkung des Projekts zu fördern, hat Jestaedt aber schon 2008 eine „Studienausgabe“ von besagter erster Auflage der Reinen Rechtslehre herausgebracht. Von Format und Umfang nicht viel größer als ein Reclam-Heft und auch zu einem durchaus erschwinglichen Preis erhältlich (er beträgt nicht einmal halb so viel wie der für den im selben Jahr im Scientia Verlag erschienenen Reprint desselben Werkes), hat dieses Büchlein durchaus die Chance, dass es unter den Studierenden, für die es konzipiert ist, weite Verbreitung findet. Die Einleitung (XI–LXVI) führt in gelungener Weise in das Thema ein, erläutert die Hauptanliegen Kelsens sowie den Stellenwert des gegenständlichen Buches in seinem Gesamtœuvre und enthält auch weiterführende Literaturhinweise.

 

Angesichts dieser umfangreichen Unternehmungen Jestaedts ist es geradezu erstaunlich, dass im selben Verlag Mohr (Siebeck) auch andere Wissenschafter Kelsen-Werke edieren können. Zu berichten ist an dieser Stelle daher auch über das Buch „Wer soll der Hüter der Verfassung sein?“, das von Robert Chr. van Ooyen herausgegeben wurde und außer dem gleichnamigen Artikel Kelsens aus den Jahren 1930/1931 auch Kelsens wegweisende Schrift über „Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit“ aus dem Jahr 1929 enthält. Letztere kann geradezu als die theoretische Überhöhung der österreichischen Verfassungsgerichtsbarkeit angesehen werden. Mit ihr wurde das 1920 (unter maßgeblicher Wirkung Kelsens) in Österreich eingeführte System zu einem Modell, das weltweit Nachahmung finden sollte – nicht zuletzt in der Bundesrepublik Deutschland. Gegen die Idee einer Verfassungsgerichtsbarkeit sind bekanntlich prinzipielle Einwände erhoben worden, u. a. vom nachmaligen „Kronjuristen des Dritten Reiches“ Carl Schmitt in dessen Schrift „Der Hüter der Verfassung“, auf die Kelsen seinerseits mit dem zweiten der hier edierten Aufsätze reagiert. Der Behauptung Schmitts, Justiz und Politik seien miteinander unvereinbar, wird der berühmte Stufenbau der Rechtsordnung entgegen gehalten: Kelsen stellt fest, „daß zwischen Gesetz und richterlichem Urteil kein qualitativer Unterschied besteht, daß dieses ganz ebenso wie jenes Rechtserzeugung ist, daß das Urteil eines Verfassungsgerichtes, darum weil es ein Akt der [negativen] Gesetzgebung, d. h. Rechtserzeugung ist, nicht aufhört, ein Akt der Gerichtsbarkeit, der Justiz, d. h. der Rechtsanwendung zu sein, und nicht zuletzt, daß ... diese so wie jene politischen Charakter haben muß“ (72f.). In seiner instruktiven Einleitung merkt der Herausgeber an, dass die unterschiedlichen Auffassungen Kelsens und Schmitts über den wahren „Hüter der Verfassung“ mit einem verschiedenartigen Demokratieverständnis korrespondieren: „Verfassungsgerichtsbarkeit steht [bei Kelsen] also nicht, wie häufig mit Schmittscher Diktion behauptet, im Gegensatz zur Demokratie, sondern ist so verstanden geradezu ihr spezifischer Ausdruck, ja fast schon eine conditio sine qua non“ (XII). Kelsens Demokratieverständnis ist das einer pluralistischen Demokratie: die Verfassung ist ein Schutz für (religiöse, nationale oder sonstige) Minderheiten, die vor der schrankenlosen Herrschaft der Mehrheit geschützt werden sollen. Wenn Schmitt dagegen von Demokratie spricht, so erblickt er nach Kelsen im Staatsvolk eine homogene Masse, deren Kollektivwillen nicht von einem Parlament, sondern vom Staatsoberhaupt gebildet werde. „Der ideologische Charakter dieser Deutung ist offenkundig“ (93). Es gehört zu den Tragödien der Geschichte, dass Kelsen trotz seiner schlüssigen und überzeugenden Argumentation nicht verhindern konnte, dass wenige Jahre später eine Staatsordnung entstand, die eben jenen Prinzipien folgten, wie sie von Schmitt vorgezeichnet worden waren. Es gehört zu den Rätseln der Gegenwart, weshalb Schmitt trotz dieser unzweifelhaften Nähe zum Faschismus heute dennoch in manchen Kreisen populärer als der für die Demokratie eintretende Kelsen ist. Es bleibt die Hoffnung für die Zukunft, dass künftig weniger Schmitt und mehr Kelsen gelesen werden wird. Die vorliegenden Editionen sind der beste Anfang hierzu.

 

Wien                                                                                                              Thomas Olechowski