Kaucher, Miriam, Die französische Spezialgerichtsbarkeit unter Napoleon Bonaparte. Ursprung, Entwicklung und Praxis unter besonderer Berücksichtigung der vier rheinischen Departements (= Rechtsgeschichtliche Studien 33). Kovač, Hamburg 2010. XLVIII, 568 S., 136 Tab. Besprochen von Werner Schubert.

 

Die Trierer, von Franz Dorn betreute Dissertation Miriam Kauchers stellt die Entwicklung der französischen Spezialgerichtsbarkeit von ihren Anfängen unter dem Ancien régime bis zu deren Abschaffung 1818 unter der Restauration dar. Im Mittelpunkt steht die Frage, „inwieweit die besondere Gerichtsorganisation und das spezifische Prozessrecht der französischen Spezialgerichte unter Napoleon Bonaparte von den Formen des ordentlichen Verfahrens abwich, inwieweit die Rechte der Bürger durch die Entziehung von prozessualen Garantien gefährdet wurden und inwieweit die Justiz durch die Politik instrumentalisiert wurde“ (S. 6). Bereits in der Mitte des 16. Jahrhunderts war die Sondergerichtsbarkeit der Prévôt des maréchaux auch über Zivilisten fest etabliert. Ihre erste zusammenhängende Regelung fand die Prévôtalgerichtsbarkeit in der Ordonnance criminelle von 1670 und einer Deklaration von 1731. Die Prevôtalgerichte waren zuständig für die Delikte der Vagabunden und Bettler (seit 1731 auch für Bettelei und Landstreicherei) und für Verbrechen, die für die öffentliche Sicherheit und Ordnung als gefährlich erachtet wurden (u. a. Zusammenrottung mit Waffen; Landstraßendiebstähle usw.; S. 34f.). Dem Prévôtalgericht musste außer Offizieren seit 1594 mindestens ein Assessor angehören. Das Verfahren durfte nur stattfinden, wenn der Présidial (das Mittelgericht unter dem Ancien régime) die prévôtale Kompetenz durch Urteil bestätigt hatte. Die Urteile der Prévôtalgerichte hatten einen „furchtbaren Ruf“ (S. 46ff.); jedoch verdienten sie, wie neuere französische Arbeiten über die Maréchaussée von Flandern gezeigt haben, zumindest für diese Region nicht das „harte Urteil des Missbrauchs, der Ignoranz und der Tyrannei, das früher über die Prévôtalgerichtsbarkeit gefällt worden sei“ (S. 54f.).

 

Die Prévôtalgerichte fielen der Neuordnung der Gerichtsbarkeit zwischen 1789 und 1791 zum Opfer. Zur Bekämpfung des räuberischen Bandenunwesens (brigandage) griff man alsbald auf die Militärgerichte und Militärkommissionen zurück. Durch ein Gesetz vom 18. pluviôse IX (17. 1. 1801) über die Einrichtung von tribuneaux spéciaux nahm man die Vorbilder des Ancien régime wieder auf. Kaucher wertet in diesem Zusammenhang sämtliche Gesetzesmaterialien (insbesondere die Staatsrats- und Parlamentsverhandlungen) aus und zeigt auf, dass der Hauptgrund zur Einrichtung von Spezialgerichten der Wunsch Napoleons, aber auch von Teilen der Öffentlichkeit war, eine eigenständige Gerichtsbarkeit ohne Jury zu schaffen, die nach Meinung der neuen Staatsführung den Delikten, welche allgemein die öffentliche Ordnung bedrohten, nicht wirksam hat entgegentreten können. In Wirklichkeit ging es Napoleon wohl darum, die von ihm wenig geschätzte Jury zurückzudrängen. Das Gesetz war allerdings im Tribunat, das die Vorlage mit der sehr knappen Mehrheit von 49 gegen 41 Stimmen annahm, auf erheblichen Widerstand gestoßen (im Corps législatif Annahme des Gesetzes mit 192 gegen 98 Stimmen). Die Spezialtribunale bestanden aus dem Präsidenten und zwei Richtern des ordentlichen Kriminalgerichtshofs des jeweiligen Departements, drei Militärpersonen und zwei vom König bestimmten Bürger (S. 127ff.). Die in der Folgezeit erweiterte Kompetenz der Spezialgerichte betraf u. a. Delikte der Vagabunden, Diebstähle auf Landstraßen sowie Mord mit Vorbedacht (S. 129ff.). Das zunächst zu fällende Kompetenzurteil war von Amts wegen durch das Kassationsgericht zu überprüfen. Die Hauptverhandlung war öffentlich und mündlich. Das Endurteil erging in letzter Instanz, ohne dass die Möglichkeit eines Kassationsrekurses bestand. Die Spezialgerichtshöfe, die nicht als Dauereinrichtung gedacht waren und 1802 in nur 33 Departements installiert worden waren, fanden als permanente Institution Eingang in den Code d’instruction criminelle von 1809. Eine Beseitigung der Schwurgerichte war am Widerstand der Staatsratsmehrheit, der sich auch Napoleon anschloss, gescheitert. Die Kompetenz der neuen Spezialgerichtshöfe war weniger ausgedehnt. Die Hauptverhandlung durfte erst stattfinden, wenn der Kassationsgerichtshof die Kompetenzentscheidung bestätigt hatte. Das Gericht bestand nunmehr aus fünf nicht absetzbaren Berufsrichtern. Grundsätzlich war der Kassationsrekurs gegen das Urteil der Spezialgerichtshöfe ausgeschlossen. Neben den ordentlichen Spezialgerichtshöfen gab es noch weitere besondere Gerichte, so insbesondere die Zollgerichte und die außerordentlichen Spezialgerichtshöfe in den Departements, in denen eine Jury nicht installiert worden war (S. 277ff.). Insgesamt ist nach neueren französischen Teilstudien zu vermuten, dass die Spezialgerichte keineswegs strenger als die ordentlichen Kriminalgerichte urteilten (S. 167ff.). Unter der Restauration wurden für die Zeit von 1816 bis 1818 Cours prévôtales wiedererrichtet nach einem Gesetz vom 20. 12. 1815, das jedoch im Mai 1818 wieder außer Kraft trat. Die Charte von 1830 verbot dann Errichtung von außerordentlichen Gerichten generell (S. 340ff.).

 

Im abschließenden Kapitel befasst sich Kaucher mit der Spezialgerichtsbarkeit im Rheinland. 1801/02 wurden in den vier rheinischen Departements Spezialgerichtshöfe eingerichtet (S. 364ff.), nachdem vorher Kriegsräte im Kampf gegen das Räuberunwesen eingesetzt worden waren. S. 395-441 behandelt Kaucher ausführlich die verfahrensrechtliche Seite des Schinderhannes-Prozesses vor dem Spezialgerichtshof des Donnersberg-Departements in Mainz unter dem Vorsitz Georg Friedrich Rebmanns. Nach 1814 wurden die Spezialgerichtshöfe faktisch abgeschafft. Den Geschworenengerichten war jedoch im preußischen Rheinland die Aburteilung von Verbrechen und Vergehen gegen den Staat und das Oberhaupt nach einer Kabinettsordre von 1821 entzogen. Dies entsprach auch dem Rechtszustand in Frankreich, wo in der napoleonischen Zeit die Haute cour impériale die Staatsdelikte aburteilte (S. 192). Dagegen blieb in der bayerischen Rheinpfalz die Spezialgerichtsbarkeit mit Modifikationen bestehen (S. 455ff.). Das Werk wird abgeschlossen mit dem Text des Gesetzes von 1801, des Titels VI des Code d’instruction criminelle und des Prévôtalgerichtsgesetzes von 1815 (S. 473ff.) sowie mit dem Kompetenzurteil und dem Endurteil im Schinderhannes-Prozess (in tabellarischer Form; S. 517ff.). Ein Sach- und ein zumindest teilweises Personenregister (letzteres hinsichtlich der an den Staatsrats- und Tribunatsdiskussionen beteiligten Personen) wären nützlich gewesen.

 

Mit ihren Untersuchungen hat Kaucher über den Ursprung sowie die Entstehung und Praxis der französischen Spezialgerichtsbarkeit eine Untersuchung vorgelegt, die insbesondere hinsichtlich der Quellenauswertung auch über die bisherigen überblicksartigen französischen Darstellungen hinausgeht. Etwas ausführlicher hätte die Spezialgerichtsbarkeit in den rheinischen Departements angesprochen werden können, wenn man einmal von der breiten Darstellung des Schinderhannes-Prozesses absieht. Nicht mehr zur Thematik des Werkes gehörte die Spezialgerichtsbarkeit im Königreich Westphalen, im Großherzogtum Berg und in den nord- und nordwestdeutschen, Frankreich angegliederten Departements, worüber bisher, soweit ersichtlich, noch keine detaillierten Arbeiten vorhanden sind. Insgesamt liegt mit dem sorgfältig recherchierten, immer gut lesbaren Werk Miriam Kauchers ein wichtiges Grundlagenwerk zur französischen Strafrechtsgeschichte und zugleich zur Rechtsgeschichte der rheinischen Departements vor, das erstmals eine präzise rechtshistorische Einordnung der napoleonischen Spezialgerichtsbarkeit und insbesondere des viel erörterten Schinderhannes-Prozesses ermöglicht.

 

Kiel

Werner Schubert