Jüngerkes,
Sven, Deutsche Besatzungsverwaltung in Lettland
1941-1945. Eine Kommunikations- und Kulturgeschichte nationalsozialistischer
Organisationen (= Historische Kulturwissenschaft 15). UVK, Konstanz 2010. 575
S. Besprochen von Martin Moll.
Die
historiographische Landkarte, bestückt mit Lokal- und Regionalstudien zur
nationalsozialistischen Besatzungspolitik im deutschokkupierten Europa zwischen
1939 und 1945, wird zunehmend dichter. Nunmehr liegt mit der für den Druck
aufbereiteten Konstanzer Dissertation von Sven Jüngerkes bereits die
zweite umfassende Studie über das zwischen 1941 und 1944 deutschbesetzte
Lettland vor; kurz zuvor hatte sich Björn Michael Felder (Lettland im Zweiten
Weltkrieg. Zwischen sowjetischen und deutschen Besatzern 1940-1946, Paderborn
u. a. 2009) mit demselben einstmals selbstständigen Staat, der 1940 in die
UdSSR inkorporiert worden und zwischen 1941 und 1944 von Deutschland besetzt
war, auseinandergesetzt.
Jüngerkes‘ Zugang ist ein anderer als der Felders, so dass es zu
keinen nennenswerten Überschneidungen oder Wiederholungen kommt. Hatte Felder
den Schwerpunkt seiner Arbeit auf das Schicksal eines Kleinstaates zwischen
zwei benachbarten, aggressiven Großmächten gelegt, so kommt der Sowjetunion bei
Jüngerkes keine nennenswerte Rolle mehr zu, nachdem er seinen einleitenden
– allerdings zu lang und zu ausführlich geratenen – historischen Rückblick über
das Baltikum zwischen den beiden Weltkriegen abgeschlossen hat. Für die
deutschen Okkupanten spielte die UdSSR in der zweiten Kriegshälfte, als die
Rote Armee sich wieder den baltischen Staaten näherte, nur insofern eine Rolle,
als deutscherseits die Hoffnung bestand, die Gefahr einer neuerlichen
Okkupation durch die Sowjets würde die Balten zum Kämpfen für Deutschland
hinreichend motivieren.
Schon der
Untertitel markiert die Absicht des Verfassers, keine traditionelle
Verwaltungsgeschichte zu schreiben; vielmehr soll es um eine Kommunikations- und
Strukturgeschichte von NS-Organisationen gehen – insoweit sie in die
Besatzungspolitik im sogenannten Reichskommissariat Ostland bzw. in dessen
Generalbezirk Lettland involviert waren, wie zu ergänzen ist. Zu diesem Zweck
zieht Jüngerkes vor allem die von Niklas Luhmann entwickelte
Systemtheorie heran, deren tragende Gedanken und deren mögliche Anwendung auf
seinen Untersuchungsgegenstand er dem Leser allerdings erst nach den ersten 200
Seiten Text darlegt. Auch in weiterer Folge werden immer wieder kürzere
theoretische Einschübe platziert, deren Verbindung zu den zahlreich
präsentierten Fallbeispielen nicht immer überzeugend ist. Irgendwie wirken
diese Theorien dem Text künstlich aufgesetzt, mitunter scheinen sie auch
entbehrlich, weil beispielsweise die Bedeutung von Rang- und Disziplinarfragen
für moderne Bürokratien, die Jüngerkes ausführlich abhandelt, dem Leser auch
ohne Rückgriff auf die Systemtheorie einleuchten.
Trotz der
Deklarierung der Studie als der Kommunikations- und Kulturgeschichte verpflichtet,
handelt es sich bei Jüngerkes‘ Arbeit doch überwiegend um eine
klassische Verwaltungsgeschichte, was durchaus kein Nachteil zu sein braucht.
Die Kulturgeschichte kommt eigentlich nur als Schlagwort im Titel vor; ihre
Erwähnung ist wohl vor allem einem gerade modischen Trend geschuldet.
Kommunikative Aspekte hingegen handelt der Verfasser recht bodenständig und mit
starkem Bezug zu den Quellen ab, wenn er etwa wiederholt auf die schwierigen
Post- und Fernmeldeverbindungen im „Ostland“ und die daraus resultierenden
Konsequenzen eingeht.
Sieht man
die Arbeit als das, was sie nach Meinung des Rezensenten in erster Linie ist,
nämlich als die konventionelle Geschichte einer – in diesem Fall ohne jedes
Vorbild 1941 aus der Taufe gehobenen – bürokratischen Organisation, so fällt
wie bei so vielen Studien zur NS-Besatzungsherrschaft deren starke Fokussierung
auf die Einrichtungs- und Auflösungsphase dieses Apparates auf. Die
militärischen Planungen für den Angriff auf die Sowjetunion, die anfängliche
und kurzlebige Militärverwaltung im Baltikum, die Vorgeschichte des
„Reichsministeriums für die besetzten Ostgebiete“ unter Alfred Rosenberg sowie
dessen komplizierter regionaler Unterbau werden von Jüngerkes in großer
Ausführlichkeit und Detailgenauigkeit beschrieben. Das Meiste davon war aus der
Literatur, auf die er sich weitgehend stützt, bereits bekannt, so dass man vor
allem die interessanten Biographien des führenden deutschen Personals zu
schätzen weiß. Ebenfalls recht weitschweifig werden dann gegen Ende des Buches die
militärische Rückeroberung des baltischen Raumes durch die Rote Armee und die
hierdurch ausgelösten Flüchtlingswellen beschrieben.
Im
Gegensatz zu den langen Passagen über Planung, Aufbau und Ende (nicht nur) der
Zivilverwaltung wird der doch immerhin knapp drei Jahre währende, wenn man so
will: Verwaltungsalltag in Lettland nur anhand ausgewählter Themenfelder
beleuchtet. Es ist ein bekanntes Problem derartiger Untersuchungen, dass dieser
Alltag häufig zurücktritt hinter die beliebte Darstellung innerdeutscher
Kompetenzkonflikte. Diese Rangeleien haben in den schriftlichen Quellen
vielerlei Spuren hinterlassen und sie sind wegen ihres bizarren Charakters auch
durchaus amüsant zu lesen. Jüngerkes präsentiert zahlreiche derartige
Beispiele, darunter sogar ein eigenes Unterkapitel über das benachbarte Estland
(S. 401-416). Erneut konnte man viele hier ausgebreitete Themen bereits in der
Literatur nachlesen, insbesondere Rosenbergs Konflikte mit der selbstherrlich
agierenden SS unter Heinrich Himmler. Partiell neu ist immerhin der Nachweis,
in welchem Ausmaß die diversen Instanzen der Zivilverwaltung untereinander
zerstritten waren.
Der mit
Abstand längste Unterabschnitt in dem Kapitel „Fallstudien zur Arbeitsweise“
der Zivilverwaltung behandelt den Holocaust in Lettland (S. 417-503), dem nahezu
ein Fünftel des Gesamtumfangs der Arbeit gewidmet ist. Ob es notwendig und
sinnvoll war, die einzelnen Deportationen, Ghettoisierungen und Massaker in
derart epischer Breite zu schildern, mag man bezweifeln, da immer wieder der
Bezug zu der eher mittelbar beteiligten Zivilverwaltung (so S. 417) verloren zu
gehen droht. Wichtige Themen wie die für den Besatzungsalltag bedeutsame
Wirtschaftspolitik oder die prekäre Zusammenarbeit mit dem, was als estnische
Selbstverwaltung bezeichnet wurde, fristen demgegenüber eine Randexistenz.
Positiv
hervorzuheben ist die breite, auf dem neuesten Stand befindliche
Literaturgrundlage der Studie sowie deren empirische Absicherung durch
Primärquellen aus deutschen, amerikanischen und lettischen Archiven; in
Russland lagernde Akten hat Jüngerkes hingegen nur in einem Fall
herangezogen, wofür er sprachliche Gründe angibt. Massive Kritik ist jedoch an
der formalen Gestaltung dieses Buches zu üben: Keine einzige Landkarte, keine Organisationsschemata
usw. erleichtern dem Leser die Orientierung; einige wenige Tabellen zu
wirtschaftlichen Fragen machen dieses Manko nicht wett. Unverständlich ist,
dass der Verlag auf jegliches Register verzichtet hat. Ebenso eingespart wurde
das Lektorat, was sinnstörende sprachlich-grammatikalische Fehler praktisch auf
jeder Seite zur Folge hat. Ein sorgfältiger Korrekturdurchgang hätte dem
Manuskript gut getan und Stilblüten wie „ihre Scherflein ins Trockene bringen“
(S. 520, recte Schäflein) vermieden.
Somit
bleibt nach der Lektüre ein zwiespältiger Eindruck zurück: Jüngerkes hat
zweifellos mit großem Fleiß viele, z. T. bislang unbeachtete Quellen
zusammengetragen und seinen darauf basierenden Urteilen wird man fast
ausnahmslos zustimmen können. Allerdings bleibt der versprochene innovative
Ansatz weitgehend uneingelöst und um eine klassische Verwaltungsgeschichte zu
schreiben, hätte der Verfasser seine Schwerpunkte anders, d. h. ausgewogener,
setzen müssen. Die Feststellung, dass die Arbeit am besten als auf Teilgebieten
wichtige Ergänzung zu Felders Buch und komplementär zu diesem gelesen werden
sollte, dürfte diese Dissertation am fairsten und treffendsten
charakterisieren.
Graz Martin
Moll