Inventar der Prozeßakten des Wismarer Tribunals, Teil 1 Bestand des Archivs der Hansestadt Wismar, Band 1 Nr. 0001-0480, bearb. v. Stein, Hans-Konrad/Jörn, Nils (= Findbücher, Inventare und kleine Schriften des Archivs der Hansestadt Wismar 1). (Selbstverlag des) Archiv(s) der Hansestadt Wismar, Wismar 2008. VIII, 499 S. Besprochen von Peter Oestmann.

 

Für die Erforschung der frühneuzeitlichen Gerichtspraxis ist der Zugriff auf die überlieferten Aktenbestände unerlässliche Voraussetzung. Seit über drei Jahrzehnten fördert die Deutsche Forschungsgemeinschaft die Verzeichnung der Prozessakten des Reichskammergerichts in dutzenden deutscher Archive. Seit einigen Jahren werden auch, maßgeblich unterstützt von der Göttinger Akademie der Wissenschaften, die in Wien lagernden Bestände des kaiserlichen Reichshofrats erschlossen und in gedruckten Inventaren zugänglich gemacht. Bereits 1994/96 erschien ein modernes Gesamtinventar der Akten des Oberappellationsgerichts der vier freien Städte Deutschlands, das maßgebliche Quellen für das 19. Jahrhundert erschließt. Seit 2003 schließlich läuft das hier anzuzeigende Verzeichnungsprojekt der Wismarer Tribunalsakten. Zunächst zeichnete Hans-Konrad Stein-Stegemann verantwortlich, der bereits zahlreiche Reichskammergerichts-Findbücher bearbeitet hatte, nach seinem Tod übernahm Nils Jörn die Federführung. Jörn, als Historiker bestens ausgewiesen für Forschungen zur Spätzeit der Hanse und zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, kann für seine Inventarisierung umfassendes Sachwissen[1] und Quellenkenntnis einbringen und legt ein insgesamt sehr hilfreiches Findmittel vor.

 

Das Wismarer Tribunal war das oberste Gericht für die seit dem Westfälischen Frieden unter schwedischer Herrschaft stehenden norddeutschen Gebiete. Durch schwedische Kriegsverluste verkleinerte sich der Gerichtssprengel 1679 und 1721, blieb aber als solcher von 1653 bis 1815 bestehen. Es hat sich in den vergangenen Jahren eingebürgert, das Wismarer Tribunal der Sache nach als ein oberstes Gericht des Alten Reiches anzusehen. Doch dies ist zweifelhaft. Zwar erhielten die schwedischen Gebiete ein illimitiertes Appellationsprivileg, aber das besaßen andere Territorien des Alten Reiches ebenfalls. Ob es entscheidende Unterschiede zwischen dem Wismarer Tribunal und weiteren territorialen Oberappellationsgerichten, etwa Celle im 18. Jahrhundert, gab, ist nicht sicher. Das tut der Bedeutung des Verzeichnungsprojekts aber keinen Abbruch. Auch höchste Landesgerichte konnten wichtige Entscheidungen fällen, wie die Dezisionensammlung von David Mevius belegt, die ganz wesentlich auf Urteilen des Wismarer Tribunals beruht.

 

Die Quellenlage ist etwas kompliziert. Zu Beginn des Unternehmens gingen die Bearbeiter von ca. 4.500 erhaltenen und 7.130 verlorengegangenen Prozessakten aus, verteilt auf die Archive in Wismar, Stade und Greifswald. Im Laufe der Verzeichnung kommen neu entdeckte Akten hinzu, so dass man auf die endgültig ermittelte Gesamtzahl gespannt sein darf. Eine sehr gute, von den drei beteiligten Archiven sowie der DFG gemeinsam verantwortete Internetseite (www.wismarer-tribunal.de) bietet jedenfalls jetzt schon Zugriff auch auf die noch nicht im Druck erschienenen Inventarisierungen. Geplant sind später zehn gedruckte Bände. Der zweite Teilband kam 2009 heraus, doch leider fehlt Geld, um die weitere Drucklegung zügig voranzutreiben.

 

Die Verzeichnungsdichte ist erheblich besser als beim Gesamtinventar des Oberappellationsgerichts Lübeck und teilweise noch genauer als bei den reichskammergerichtlichen Repertorien. Die Frankfurter Grundsätze zur Verzeichnung von Reichskammergerichtsakten bilden zwar das Grundgerüst, aber gerade in der präzisen Angabe von Daten und Prozessgeschichte erfüllt das Wismarer Findbuch höchste Ansprüche. Für die Rechtsgeschichte erschließt sich damit ein weiterer riesiger Quellenbestand, dessen inhaltliche Bedeutung weit über regionale Fragestellungen hinausreicht. Beim Durchblättern des Bandes mag man über die Dutzende von Prozessen schmunzeln, in denen Advokaten gegen ihre Mandanten auf Honorarzahlung klagen. Auch der innerstädtische Kleinkram aus dem frühneuzeitlichen Wismar sieht teilweise ganz unwichtig aus. Aber die Autorität, welche die Dezisionensammlung von David Mevius bis ins 18. Jahrhundert hinein besaß, lässt solche Einwände verstummen. Jedenfalls die Tribunalsentscheidungen hielten die Zeitgenossen fraglos für überregional bemerkenswert, und deswegen ist es eine lohnende Aufgabe der rechtshistorischen Forschung, sich auch mit den dahinter stehenden Sachverhalten und anwaltlichen Auseinandersetzungen zu beschäftigen. Da ein Gesamtregister dem letzten Band vorbehalten ist und auch erst dann eine CD-ROM mit Volltext-Suchfunktion erscheinen wird, ist der Benutzer vorerst darauf angewiesen, die Bände vollständig durchzusehen. Die vielen Details aus der norddeutschen Rechtsgeschichte, die man dabei erfährt, sind den Aufwand aber wert.

 

Münster                                                                                                         Peter Oestmann



[1] Nils Jörn/Bernhard Diestelkamp/Kjell Åke Modéer (Hgg.), Integration durch Recht. Das Wismarer Tribunal (1653-1806), 2003.