Hornauer, Alexandra Maria, Das Reichsgericht zur Frage des richterlichen Prüfungsrechts (1919-1933). Lang, Frankfurt am Main 2009. 286 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Obwohl bereits zur Judikatur des Reichsgerichts zum richterlichen Prüfungsrecht einige Untersuchungen vorlagen, fehlte es bislang an der einer systematischen Erfassung der Entscheidungen der Zivilsenate des Reichsgerichts zu dieser Thematik. Diese Lücke schließen die Untersuchungen Alexandra Maria Hornauers, die hierzu, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die veröffentlichten Entscheidungen der Zivilsenate des Reichsgerichts und sämtliche einschlägigen, auch unveröffentlichten Urteile des Staatsgerichtshof herangezogen hat. In einem ersten Teil stellt Hornauer die Entwicklung des richterlichen Prüfungsrechts in der Rechtslehre nach der Reichsverfassung von 1871 und der Weimarer Verfassung dar (S. 22ff.). Im Hauptteil behandelt sie nach einem Überblick über die Institution Reichsgericht zunächst dessen wenige Entscheidungen zum richterlichen Prüfungsrecht vor 1919, das nur in formeller Hinsicht in Anspruch genommen wurde (S. 43ff.). Für die Weimarer Zeit werden die Entscheidungen der Zivilsenate jeweils getrennt voneinander behandelt, da jeder Senat im Rahmen seiner Kompetenzen zum richterlichen Prüfungsrecht Stellung zu nehmen hatte. Herangezogen werden Entscheidungen des zweiten bis achten Zivilsenats und eine nicht sonderlich wichtige Entscheidung der Vereinigten Zivilsenate. Die Entscheidungen betreffen vornehmlich das Staatshaftungsrecht und das Aufwertungsrecht. Jeweils vorweg geht Hornauer auf die Biographien der jeweiligen Senatspräsidenten anhand der erhalten gebliebenen Personalakten ein. In 62 Entscheidungen befasste sich der 3. Zivilsenat (Dienstrechtssenat) mit dem richterlichen Prüfungsrecht; für den 5. Senat (u. a. zuständig für Aufwertungsrecht) liegen 14 Entscheidungen vor, von denen der sogenannte Pfändungsfall (RGZ 111, 329 von 1925; S. 95ff.) von Bedeutung ist und in dem der Senat das richterliche Prüfungsrecht hinsichtlich der formellen und materiellen Verfassungsmäßigkeit eines Reichsgesetzes für sich in Anspruch nahm. Die Zivilsenate gingen – so das Ergebnis der Untersuchungen – unterschiedlich mit dem richterlichen Prüfungsrecht um. Auch wenn der 3. Senat das richterliche Prüfungsrecht restriktiv ausübte, so ist die vorherrschende Ansicht in der Literatur nicht zutreffend, er habe das Prüfungsrecht überhaupt abgelehnt. Für die Inflations- und Aufwertungsfälle war das richterliche Prüfungsrecht meist ein Hilfsmittel, dem „Gerechtigkeitssinn“ einiger Senate „Ausdruck zu verleihen“ (S. 243).

 

Im Ergebnis wurde das Prüfungsrecht für alle Rechtsnormen in Anspruch genommen, wenn dies auch im Einzelfall nicht immer geschah. Insgesamt gab es keine durchgängige Rechtsprechung der Senate hinsichtlich des Prüfungsrechts, auch nicht in der Aufwertungsfrage. Das Prüfungsrecht beschränkte sich grundsätzlich auf eine formelle Prüfung bei verfassungsändernden Gesetzen, wobei die Frage, ob ein solches Gesetz vorlag, der formellen Prüfung zugeordnet wurde. Bei über 50 % der Entscheidungen ging es im Übrigen um die Vereinbarkeit von Landesrecht mit der Weimarer Reichsverfassung (S. 60f.). Im Übrigen wurde das richterliche Prüfungsrecht meist nur in Entscheidungen ausdrücklich bejaht, in denen es für den konkreten Streitgegenstand nicht von Bedeutung war (S. 243). Wenig ergiebig war die Untersuchung der Frage, „ob es Zusammenhänge zwischen einzelnen Entscheidungen und mitwirkenden Richterpersönlichkeiten gab“ (S. 244). Zur Beantwortung dieser Frage hätten allerdings noch die jeweiligen Berichterstatter erfasst werden können, die sich aus den Prozesslisten der Senate ergeben. Im Übrigen sind zu den von Hornauer detaillierter besprochenen, meist in der amtlichen Sammlung der zivilgerichtlichen Entscheidungen des Reichsgerichts (RGZ) abgedruckten Entscheidungen die Revisionsakten mit den Gutachten der Berichterstatter grundsätzlich im Bundesarchiv in Berlin noch vorhanden. Im Abschnitt über den Staatsgerichtshof kommt Hornauer zu dem Ergebnis, dass dieser bei der Überprüfung von Reichsnotverordnungen „äußerste Zurückhaltung“ ausgeübt habe (S. 217, 225). Nach einem Abschnitt über das richterliche Prüfungsrecht in Österreich (S. 227ff.) fasst Hornauer die Ergebnisse ihrer Untersuchungen in einer „Schlussbetrachtung“ zusammen (S. 243ff.; vgl. auch S. 182ff. für die Judikatur der Zivilsenate). In diesem Zusammenhang fehlt eine detailliertere Beantwortung der in der Einleitung aufgeworfenen Frage, ob (sich) „das richterliche Prüfungsrecht als Schutzmittel des Volkes gegen den Staat darstellte, mit dessen Hilfe gegenüber dem Parlament die in der Verfassung ausgesprochene Sicherung von Freiheit und Eigentum geschützt werden konnte“ (S. 19). Insgesamt liegt mit den Untersuchungen Hornauers zu der noch immer wenig erschlossenen Judikatur des Reichsgerichts in der Weimarer Zeit eine wichtige Arbeit vor, die hinsichtlich der Trennung der Judikatur nach den einzelnen Zivilsenaten auch in methodischer Hinsicht Beachtung verdient.

 

Kiel

Werner Schubert