Holzner, Thomas, Die Decreta Tassilonis. Regelungsgehalt, Verhältnis zur Lex Baiuvariorum und politische Implikationen (= Schriften zur Rechtsgeschichte 145). Duncker & Humblot, Berlin 2010. 631 S. Besprochen von Hannes Ludyga.
Thomas Holzner behandelt in seiner am Leopold-Wenger-Institut für Rechtsgeschichte an der juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München 2008 angenommenen Dissertation unter Berücksichtigung umfassender Literatur- und Quellenbestände das schwierige und anspruchsvolle Thema „Die Decreta Tassilonis. Regelungsgehalt, Verhältnis zur Lex Baiuvariorum und politische Implikationen“. Er leistet damit auf hohem Niveau einen grundlegenden Beitrag zur europäischen und deutschen Rechtsgeschichte des Mittelalters. Es handelt sich bei seinem Untersuchungsgegenstand um ein Desiderat der historischen und rechtshistorischen Forschung. Durchweg zeichnet sich das Werk durch einen historisch-kritischen Umgang mit Editionen und Übersetzungen frühmittelalterlicher Rechtstexte aus. Die schwierige Quellenlage wird hervorragend gelöst. Vorbildlich berücksichtigt der Autor in seiner Untersuchung mit Tiefgang neben rechtlichen ebenso die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen der Zeit.
Gegliedert ist das Werk neben einer umfangreichen Einleitung in die sechs Hauptkapitel, „Die Gesetzestexte“ (S. 26-67), „Der historische Hintergrund“ (S. 68-93), „Der Regelungsgehalt der Decreta Tassilonis“ (S. 94-456), „Der Normstil“ (S. 457-502), „Die Anordnung der Regelungsgegenstände“ (S. 503-518) und „Schlussbetrachtungen“ (S. 519-539). Diese klare Gliederung und entsprechende Zusammenfassungen innerhalb der einzelnen Kapitel erleichtern die Lesbarkeit des Buchs erheblich. Abgerundet wird das Werk durch ein äußerst sorgfältig erstelltes Personen- und Sachregister.
Im ersten Kapitel wendet sich der Verfasser unter Berücksichtigung der bisherigen Forschungsgeschichte zunächst der Lex Baiuvariorum, deren Datierung umstritten ist, zu. Auf der einen Seite wird eine einheitliche Entstehung um 740 und auf der anderen Seite eine stufenweise zwischen dem 6. und 8. Jahrhundert angenommen (S. 27). Der Ort der Entstehung lag vermutlich in Regensburg (S. 32-33). Bei den Decreta Tassilonis handelt es sich in der modernen Forschung um eine verkürzte Bezeichnung für die bayerischen Synoden von Aschheim, Dingolfing und Neuching (S. 35), die in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts stattfanden, wobei eine genaue zeitliche Einordnung Schwierigkeiten bereitet (Aschheim: 756 oder 755-760; Dingolfing: wohl 770; Neuching: 771 oder 772). Die Synodaltexte enthalten kirchliche, „staatskirchenrechtliche“ und weltliche Regelungen. Überzeugend legt der Verfasser nach eingehender Quellenanalyse dar, dass sich das Konzil zu Aschheim von den Konzilien zu Dingolfing und Neuching maßgebend unterscheidet. Damit ist es – wie es der Autor nachdrücklich betont - nicht gerechtfertigt, das Konzil zu Aschheim als Decretum Tassilonis zu bezeichnen, sondern vielmehr als ein Konzil der Bischöfe (S. 520-521).
Eingebettet in die Lebenswege von Herzog Odilo (vermutlich vor 700-748) und Herzog Tassilo III. (um 741-796) gibt der Verfasser im zweiten Kapitel einen Einblick in den historischen Hintergrund für seinen Forschungsgegenstand. Er zeigt, wie Tassilo zunächst seine Macht im Inneren Bayerns festigte, indem er zwischen 762 und 763 die Bischofsstühle von Freising und Regensburg neu besetzte (S. 81). Gekennzeichnet war diese Zeit von einem guten Verhältnis zwischen dem bayerischen Herzog, dem Adel und den Bischöfen (S. 86). Schließlich musste sich Tassilo aber in die Vasallität Karls ergeben, der 788 über ihn Gericht hielt und Tassilo verbannte. Die agilolfingische Dynastie war damit zunächst faktisch abgesetzt, 794 musste Tassilo schließlich rechtsverbindlich abdanken und seinem Herzogtum entsagen (S. 89-93). Der Frage, inwieweit sich die Synodaltexte von Aschheim, Dingolfing und Neuching an die Lex Baiuvariorum annähern, wendet sich der Verfasser auch rechtsvergleichend akribisch im dritten Kapitel – dem Kernstück der Arbeit – zu. Er behandelt die Regelungen mit kirchlichem (Leben der Kleriker, Schutz Hilfsbedürftiger, Begünstigungen der Kirche durch den Herzog und Begünstigungen des Herzogs durch die Kirche) und weltlichem Schwerpunkt (Tötungsdelikte, Eigentumsdelikte, Regelungen über die Funktionsträger, Vorschriften über die Ehe, prozessuale Vorschriften, servi principis, Begünstigung des Adels durch den Herzog, Begünstigungen des Herzogs). Dabei unterteilt er die Synodaltexte schlüssig in vier Kategorien. In einer ersten Gruppe fasst er die Normen zusammen, die mit solchen der Lex Baiuvariorum wörtlich und inhaltlich identisch sind. In einer zweiten Gruppe von Regelungen ist eine ausdrückliche Bezugnahme im Sinn eines Verweises auf die Lex Baiuvariorum denkbar und in einer dritten Gruppe werden die Regelungen betrachtet, die vom Sinngehalt der Lex Baiuvariorum angenähert sind. Schließlich behandelt der Autor in einer vierten Gruppe die Normen der Synodaltexte von Aschheim, Dingolfing und Neuching, die keine Entsprechung in der Lex Baiuvariorum finden. Mit drei Normen weist die erste Gruppe den geringsten Umfang auf. Umfangreicher ist die zweite Gruppe mit immerhin sieben Kanones. 19 Kanones sind unter die dritte Gruppe zu fassen. Die vierte Gruppe bildet die größte. Es handelt sich dabei um die Bestimmungen, deren Inhalte keine Entsprechung in der Lex Baiuvariorum finden. Allerdings weist der Verfasser zu Recht daraufhin, dass sich auch in dieser Gruppe Regelungen befinden, die einen Bezug zur Lex Baiuvariorum aufweisen. Exemplarisch hingewiesen werden soll insoweit auf das Conc. Asch. c. 5 mit der Bestrebung zur Einführung des Zehnten. Auch wenn die allgemeine Zehntpflicht der Lex Baiuvariorum fremd ist, finden sich Ansätze einer solchen Abgabepflicht in Höhe des zehnten Teils in L. Bai. 1, 13. Zudem arbeitet der Verfasser überzeugend heraus, dass unabhängig von inhaltlichen Aspekten das Rechtsfolgensystem, von dem die Verfasser der Synodaltexte ausgehen, demjenigen der Lex Baiuvariorum entspricht. Dies gilt etwa hinsichtlich Wergeldzahlung und Fiskalbußen. Hinsichtlich der Glossierungen zeigt der Verfasser, dass sich die Synodaltexte und die Lex Baiuvariorum von der sprachlichen Gestaltung und vom Zweck der Glossen als Tatbestandserklärungen her entsprechen.
Völlig neu ist die Erkenntnis des Verfassers, dass die bestehenden Editionen der Lex Baiuvariorum teilweise Novellierungen durch die Synodaltexte enthalten. Die chronologische Hintereinanderreihung der Quellen in den bestehenden Editionen gibt damit nicht die textliche Entstehung wieder. Auch dieser Befund ist ein bedeutender Gewinn für die historische und rechtshistorische Forschung.
Das Buch mit grundlegenden Aussagen zur Rechtsquellen- und Rechtsanwendungslehre verdient hohe Anerkennung. Der Verfasser förderte eine große Menge bisher unbekannter Details zu Tage. Es ist dem Werk, das die Kenntnisse zur frühmittelalterlichen Rechtsgeschichte maßgeblich voranbrachte, eine große Verbreitung zu wünschen.
München Hannes Ludyga