Hirsch, Steffen, Der Typus des „sozial desintegrierten“ Straftäters in Kriminologie und Strafrecht der DDR - Ein Beitrag zur Geschichte täterstrafrechtlicher Begründungen. Sierke, Göttingen 2008. XIV, 257 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Die Arbeit ist die von Günther Kräupl betreute Dissertation des am Lehrstuhl als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätigen Verfassers.  Im Kern geht es ihr um das Problem, inwieweit aus der zentralen Vorschrift zur strafrechtlichen Bekämpfung von Asozialität (§ 249 StGB-DDR) ein täterstrafrechtliches Substrat abgeleitet werden kann. Dies ist deswegen besonders bedeutsam, weil seit dem Ende des 19. Jahrhunderts das bis dahin herrschende Konzept des rechtsstaatlichen Tatstrafrechts durch Reformansätze der modernen Strafrechtsschule Franz von Liszts durchsetzt worden war, die Strafrechtswissenschaft der (ehemaligen) Deutschen Demokratischen Republik aber 1949 mit dem Anspruch angetreten war, unter Überwindung bürgerlicher Rechtstradition eine originär sozialistische Rechtsordnung zu schaffen, aus der täterstrafrechtliche Konstrukte als Instrumente von Willkürherrschaft und Unterdrückung politisch Unliebsamer ausgeschlossen sein sollten.

 

Der Verfasser gliedert seine Untersuchung in insgesamt sechs Teile.  Nach einer Einführung behandelt er das Rechtsverständnis in der DDR, den ideologischen und gesellschaftlichen Rahmen der Verfolgung, die Dogmatik des § 249 StGB und die Vorschrift als Reflex täterstrafrechtlichen Denkens mit dem Typus des sozial Desintegrierten. Am Ende fasst er seine Erkenntnisse kurz zusammen.

 

Danach galten vermeintlich asoziale Einstellungen und Verhaltensweisen in der DDR als verwerflich und intolerabel, weil sie die Idee des Sozialismus untergruben und das postulierte Ideal des Menschen als vergesellschaftetes Individuum und produktiven Schöpfer in Frage stellten. Trotz der Bemühungen der Strafrechtstheorie und der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs um eine tatstrafrechtliche Auslegung des 1968 geschaffenen § 249 StGB konnte der Verfasser in seiner Arbeit eine täterstrafrechtliche Substanz nachweisen. Insgesamt sieht er deshalb folgerichtig die im Ergebnis gescheiterte Kriminalisierung Asozialer in der DDR (1969 3713 Täter, 1980 12795, 1988 7640, zweitgrößte Kriminalitätsgruppe) als eindeutiges Beispiel für die Deformation von Strafrecht durch übertriebenes Sicherheitsdenken.

 

Innsbruck                                                                   Gerhard Köbler