Hasenclever, Jörn, Wehrmacht und Besatzungspolitik in der Sowjetunion. Die Befehlshaber der rückwärtigen Heeresgebiete 1941-1943 (= Krieg in der Geschichte 48). Ferdinand Schöningh, Paderborn-München-Wien-Zürich 2009. 613 S. Besprochen von Martin Moll.
Das am 22. Juni 1941 auf Befehl Hitlers gestartete „Unternehmen Barbarossa“, der als Blitzkrieg konzipierte Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion und der sich daraus entwickelnde, blutige deutsch-sowjetische Abnutzungskrieg bis zum Mai 1945, beschäftigt die historische Forschung ungebrochen, ja vielleicht mehr denn je. Standen früher operationsgeschichtliche und rüstungswirtschaftliche Fragen in Vordergrund, so hat sich das Interesse im Gefolge der in der Mitte der 1990er Jahre der Öffentlichkeit präsentierten „Wehrmachtsausstellung“ auf das Geschehen im Hinterland der Front verlagert, auf jenen Raum also, wo die Mehrzahl der „Verbrechen der Wehrmacht“ – so der Untertitel der Ausstellung – geschah.
Abgesehen von einem schmalen Geländestreifen hinter den Kampffronten, dem Operationsgebiet der Armeen, waren die eroberten Gebiete der Sowjetunion administrativ zweigeteilt: Im Westen regierte das Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete bzw. dessen zwei Reichskommissariate Ukraine und Ostland (umfassend die baltischen Staaten und Weißrussland), während im Osten daran anschließend die Wehrmacht, genauer: das Heer in einem riesigen Territorium die vollziehende Gewalt innehatte. Gegliedert war dieser Raum in die rückwärtigen Heeresgebiete Nord, Mitte und Süd, wobei letzteres 1942-1943 in die Sektoren A, B und Don aufgespalten war. Angesichts des Vormarsches der Roten Armee wurden die rückwärtigen Heeresgebiete im Herbst 1943 aufgelöst. Sie ließen, so Hasenclever, ein überaus blutiges Erbe zurück.
Es ist eigenartig, dass die rückwärtigen Heeresgebiete bzw. deren Befehlshaber (Berück) jahrzehntelang kaum beachtet wurden. In den letzten Jahren ist diese Nichtbeachtung ins Gegenteil umgeschlagen. Klaus Jochen Arnold, Dieter Pohl und Christian Hartmann haben zwischen 2005 und 2009 dickleibige Monographien genau zu diesem Thema der deutschen militärischen Besatzungsherrschaft auf dem östlichen Kriegsschauplatz vorgelegt, so dass wir jetzt plötzlich beinahe über ein Überangebot einschlägiger Studien verfügen. Institutionell haben sich bisher zwei mit dieser Thematik befasste Forscherkreise herausgebildet, wovon einer beim Münchner Institut für Zeitgeschichte angebunden ist (Hartmann, Pohl), während sich ein zweiter „Kreis für Militärgeschichte“ (S. 569) an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster unter der Patronanz von Hans-Ulrich Thamer etabliert hat, dem neben Arnold auch Hasenclever angehört. Die Kooperation beider Zirkel ist nicht so recht klar: Wohl nennt Hasenclevers Danksagung (S. 569f.) so ziemlich jeden, der in der deutschen Militär- und Besatzungsgeschichtsschreibung tätig war bzw. ist, andererseits verwertet der Verfasser weder Hartmanns thematisch ganz ähnlich ausgerichtete Studie „Wehrmacht im Ostkrieg. Front und militärisches Hinterland 1941/42“, die Mitte 2009 erschienen ist, noch den gleichzeitig publizierten, von Christian Hartmann, Johannes Hürter, Peter Lieb und Dieter Pohl herausgegebenen Sammelband „Der deutsche Krieg im Osten 1941-1944. Facetten einer Grenzüberschreitung“. Dies ist zwar bedauerlich, erklärt sich aber aus dem Umstand, dass das Manuskript zur Druckfassung der Mitte 2007 angenommenen Münsteraner Dissertation Hasenclevers schon 2008 abgeschlossen wurde. Wenigstens konnte Pohls Studie „Die Herrschaft der Wehrmacht. Deutsche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion 1941-1944“ (2008) noch berücksichtigt werden.
Wie die vorherigen Ausführungen verdeutlicht haben, steht Hasenclevers Arbeit in einem neuerdings reichlich beackerten Forschungsfeld, weshalb in erster Linie zu fragen ist, was sie zu diesem Neues beizutragen vermag. Zunächst rückt sie erneut und nachdrücklich die lange übersehene Erkenntnis in den Fokus, dass die Wehrmacht – entgegen ihren ursprünglichen Planungen und wohl auch Hoffnungen – nach dem Überfall auf die Sowjetunion durch den unerwarteten Verlauf des Krieges gezwungen war, einen erheblichen Teil des eroberten Gebiets in eigener Verantwortung zu verwalten. Diese Verantwortung war freilich vom ersten Tag an dadurch eingeschränkt, dass in dem nominell den Berücks unterstehenden rückwärtigen Heeresgebieten nicht-militärische Instanzen, allen voran Himmlers SS- und Polizeiapparat sowie hinsichtlich der Wirtschaft Görings Vierjahresplanbehörde, weitreichende Kompetenzen eingeräumt erhielten. Diesen mächtigen Mitspielern gegenüber gerieten die Berücks – ältere, reaktivierte Generale ohne Hausmacht und Renommee – sowie ihre schwachen, drittklassigen Sicherungsverbände bis vor kurzem weitgehend aus dem Blick. Hasenclever legt überzeugend dar, wie unbegründet dieses Desinteresse ist.
Der Verfasser nähert sich seinem Gegenstand – der von den Berücks praktizierten Besatzungspolitik – auf zweierlei Wegen, einem biographischen und einem strukturell-faktischen. Ohne auch nur ansatzweise einem personalistischen Geschichtsbild zu huldigen, misst er der Persönlichkeit der vier Berücks, den Generalen Max von Schenckendorff, (den Vettern) Franz und Karl von Roques sowie Erich Friderici, ausschlaggebende Bedeutung bei. Die Lebenswege dieser vier Berufsmilitärs, vor allem deren Erfahrungen im Ersten Weltkrieg, werden akribisch nachgezeichnet und überzeugend anhand autobiographischer Quellen belegt. Noch bedeutsamer als diese Prägungen im wilhelminischen Kaiserreich und durch die Fronterfahrungen 1914-1918 war freilich der Umstand, dass drei der vier Berücks am Anfang der 1930er Jahre mangels entsprechender Planstellen frühzeitig pensioniert worden waren, während der jüngere Friderici 1939/40 als Wehrmachtbefehlshaber im Protektorat Böhmen und Mähren an Kompetenzkonflikten gescheitert war. Alle vier erlebten somit ihre – angesichts ihres vorgerückten Alters gar nicht mehr erwartete – Reaktivierung für den Osteinsatz als einmalige Chance, auf ihre alten Tage noch bzw. neuerlich militärische Meriten erwerben zu können. Kein Wunder, dass alle vier – bei mancherlei Unterschieden im Detail – sich dieser Bewährungsprobe gewachsen zeigen wollten.
Vor dem Hintergrund der sehr detailreich gezeichneten Biographien der Berücks vor ihrem Osteinsatz ab Frühjahr 1941 skizziert Hasenclever die Planungen für die Militärbesatzung, die extrem vage blieben, weil sie von zwei Prämissen ausgingen: Einer raschen Beendigung des Feldzugs gegen die Sowjetunion und einer ebenso raschen Übergabe der eroberten Gebiete an die im Vorfeld konzipierte Zivilverwaltung des Ostministeriums. Doch es kam bekanntlich anders, aus dem Provisorium wurde ein mehrjähriger Dauerzustand. Deshalb macht es Sinn, die wichtigsten besatzungspolitischen Felder für die Heeresgebiete gesondert zu untersuchen, nachdem Aufbau, Zusammensetzung und Funktionsweise der rückwärtigen Heeresgebietskommandos erläutert wurden. Der Verfasser unterscheidet hierbei drei große Themenfelder, denen die Kapitel B-D seiner Studie gewidmet sind: Die allgemeine Besatzungspolitik inklusive der Wirtschafts- und Arbeitskräftepolitik, der Partisanenkrieg sowie der Mord an der jüdischen Bevölkerung. Die Gliederung ist ausgewogen und nicht ausschließlich auf die offenkundigen Verbrechen fokussiert, da die allgemeine Besatzungspolitik mit mehr als 150 Seiten den längsten Abschnitt bildet.
Schon hier, bei den quasi alltäglichen Verwaltungsangelegenheiten, wird mehr als deutlich, dass die Befehlshaber die Erfüllung der ihnen übertragenen Aufgaben stets unter die „Notwendigkeiten des Krieges“ (S. 558) gestellt sahen; damit würden sie ihr Handeln auch nach 1945 stets rechtfertigen, wobei freilich nur einer der vier Berücks direkt vor diese Notwendigkeit gestellt war: Max von Schenckendorff, der laut Hasenclever wohl am stärksten in die NS-Vernichtungspolitik involvierte Befehlshaber, war schon Mitte 1943 eines natürlichen Todes gestorben; von seinen Kollegen wurde lediglich Karl von Roques in einem der alliierten Nachkriegsprozesse angeklagt und zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt, die beiden übrigen gingen straffrei aus.
Die drei, später dann vier Berücks kamen in die ihnen zugewiesenen Räume unvorbereitet, bar detaillierter Vorgaben. Was sie allerdings mitbrachten, waren tiefverwurzelte antisemitische und antibolschewistische Vorurteile, die der bald anhebende und immer mehr außer Kontrolle geratende Partisanenkrieg bestärkte. Gleichwohl arbeitet Hasenclever detailliert heraus, dass die vier Berücks spätestens im Herbst 1941 erkannten, in welchem hohen Maß sie im Interesse der Kriegführung auf die Mitarbeit der – anfangs überwiegend als freundlich und gutwillig wahrgenommenen – Zivilbevölkerung in all ihrer ethnischen, politischen und religiösen Vielfalt angewiesen waren. Sämtliche Plädoyers für eine darauf Rücksicht nehmende Verwaltungspolitik, die bis zu einer „Generalkritik an der deutschen Ostpolitik“ (S. 560) reichen konnten, blieben jedoch aufgrund des administrativen Kompetenzchaos und der mächtigen Hardliner ungehört.
Dessen ungeachtet unterstreicht die Studie durchgängig die Handlungsfreiräume der Befehlshaber, die sie zwar unterschiedlich nutzten, ohne jedoch einer Beteiligung an Massenverbrechen entkommen zu können. Dieser Sachverhalt zeigt sich besonders klar bei der Ermordung der jüdischen Bevölkerung, an der manche den Berücks unterstellte Sicherungsverbände aktiv mitwirkten, während die generelle Linie der Befehlshaber darin bestand, dieses ungeliebte Feld der SS zu überlassen. Im großen Ganzen dominierte eben doch die reibungslose Zusammenarbeit mit dem SS- und Polizeiapparat, auf dessen Kräfte die Berücks bei ihren „Befriedungsaufgaben“ nicht verzichten konnten. Ab Mitte 1942 und dann vor allem im folgenden Jahr entglitten weite Gebiete der faktischen Kontrolle der Militärverwaltung, so dass erst recht nahezu die gesamte Bevölkerung unter einen Generalverdacht geriet und harte Repressalien zur Abschreckung mehr und mehr an der Tagesordnung waren.
Insgesamt arbeitet Hasenclever auf breitester Quellengrundlage – einschließlich von den Familien der Berücks zur Verfügung gestellter persönlicher Dokumente – die Besatzungspolitik in den rückwärtigen Heeresgebieten in allen Einzelheiten heraus und erklärt sie durch ein Zusammenspiel situativ-struktureller Faktoren mit den persönlichen Prägungen der Berücks, bei denen der Drang nach Anerkennung und Versagensängste dominierten. Die Erfüllung des militärischen Auftrags überlagerte sämtliche ethnisch-moralischen Normen. Diese methodisch und quellenmäßig mustergültige, wenngleich mitunter zu weitschweifige und sprachlich ein wenig schlampig lektorierte Studie versucht erfolgreich zu erklären, was im Osten passierte, und die dafür Verantwortlichen zu identifizieren. Hasenclever hat somit eine Pflichtlektüre für jeden am „Unternehmen Barbarossa“ Interessierten vorgelegt.
Graz Martin Moll