Hartmann, Christian, Wehrmacht im Ostkrieg. Front und militärisches Hinterland 1941/42. Oldenbourg, München 2009. VIII, 928 S. Besprochen von Werner Schubert.
Das Werk Christian Hartmanns, des Leiters des Forschungsprojekts des Instituts für Zeitgeschichte: „Wehrmacht in der nationalsozialistischen Diktatur 1933-1945“ befasst sich mit den Verbrechen der Wehrmacht im Osten zwischen 1941 bis Mitte 1942 (Gesamtüberblick in dem von Hartmann, C./Hürter, J./Lieb, B./D. Pohl, D. herausgegebenen Sammelwerk über den deutschen Krieg im Osten 1941-1944; besprochen von Werner Augustinovic). Dabei geht es weniger um die Frage der „juristischen Verantwortlichkeit“, sondern um die Frage, „welche Motive einen Soldaten dazu brachten, einen rechts- und sittenwidrigen Befehl zu befolgen“ und um die Frage, wie groß überhaupt die „Handlungsspielräume des einzelnen Soldaten“ waren (S. 475). Um hierzu zu hinreichend detaillierten Aussagen zu kommen, beschränkt Hartmann seine Untersuchungen auf die Aktivitäten von fünf Divisionen – die Division war in der deutschen Wehrmacht mit knapp 18.000, später 12.000 Mann der kleinste Heereskörper, der durch seine „organische Zusammensetzung zur operativer Selbstständigkeit befähigt“ war (S. 17) – während der Zeit zwischen Juni 1941 und Juni 1942. Die fünf ausgewählten Divisionen versteht Hartmann in ihren Funktionen als Modell des Ostheeres und damit auch seines Gefechts- und Besetzungsgebiets (vgl. S. 25). Zunächst stellt er unter der Überschrift „Formationen“ die Division, deren Aufgaben und Hierarchien dar und ordnet die fünf ausgewählten Divisionen als Modell des Ostheeres und auch seines Gefechts- und Besatzungsgebiets, nämlich die 286. Infanteriedivision als eine professionelle, unterdurchschnittliche Kampfdivision, die 4. Panzerdivision als eine professionelle, überdurchschnittliche Kampfdivision, die 121. Sicherungsdivision als durchschnittlicher, frontferner Besatzungsverband und die Korück 580 (Kommandant des Rückwärtigen Armeegebiets) als unterdurchschnittlicher, frontnaher Besatzungsverband. Es folgt ein Abschnitt „Soldaten“, der die Formierung und Sozialstruktur der Divisionen, ihre „Heimat“ bzw. ihre regionale Herkunft, die Zusammensetzung des Kaders, die Auszeichnungen und ihre Verluste (S. 81-242) behandelt. Der Abschnitt „Krieg“ (S. 243-423) bringt die „Operationsgeschichte in vertikaler Perspektive“ (S. 244), bei der bereits Verstöße der Wehrmacht gegen Gesetze und Gebräuche des Kriegs in das Blickfeld kommen. Sehr wichtig ist der anschließende Abschnitt „Räume“ (S. 425-467), in dem Hartmann insbesondere die strukturellen Unterschiede zwischen dem Einsatz an der Front und im Hinterland herausarbeitet.
Kernpunkt des Werkes ist der 5. Teil „Verbrechen“ (S. 469-788), gegliedert in die Abschnitte: Kommissare und Funktionäre, Kriegsgefangene I (Gefechtszone), Kriegsgefangene II (Hinterland), Völkermord (Judenvernichtung), Partisanen und Rückzugsverbrechen. Die fünf Verbände, deren Verhalten Hartmann untersucht, hatten „viele Verbrechen“ zu verantworten: „Vernachlässigung der Fürsorgepflicht gegenüber der Zivilbevölkerung, systematische Unterversorgung der Kriegsgefangenen, Misshandlungen, Plünderungen, Ausbeutung, Repressalien, flächendeckende Verwüstung und immer wieder Morde, Morde, Morde“ (S. 791). Die meisten kriegsgefangenen Militärkommissare und sog. Funktionäre kamen nicht an der Front, sondern auf dem Weg in die Lager und in diesen selbst um (Varianten des Sterbens: Hunger, Kälte, wahlloser Terror [Morde], gezielte Selektion [S. 586ff.], nach Hartmann eines der „größten Verbrechen der Kriegsgeschichte“, allein Tod von 2 Millionen Gefangenen aus dem Jahre 1941). Eine Beteiligung am Holocaust fand vor allem in den rückwärts gelegenen Militärverwaltungsgebieten unter Führung der Einsatzgruppe B1, von Polizeibataillonen und Brigaden der Waffen-SS statt. Ohne die „Vorarbeit der Wehrmacht und ohne deren logistische und administrative Unterstützung“ hätte der Holocaust niemals die furchtbaren Ausmaße erreichen können (S. 696). Im Einzelnen hatte die 221. Sicherungsdivision mit Abstand die meisten Verbrechen zu verantworten, gefolgt von dem Korück 580 und der 4. Panzerdivision, während der Verrohungsprozess bei den beiden Infanteriedivisionen erheblich geringer war. Wie Hartmann detailliert herausarbeitet, verteilten sich individuelle Schuld und Verantwortlichkeit für die Verbrechen der Wehrmacht sehr unterschiedlich, was „interessanterweise eher funktionale als persönliche Voraussetzungen“ besessen habe (S. 820). Folgenreicher als „Meinungen oder Charaktere“ seien „die Weisungen der Zentralinstanzen, das Korsett des militärischen Apparats und die Eigendynamik des Krieges“ gewesen. Hinsichtlich der „kollektiven Verantwortung“, die parallel zum Dienstgrad wachse, lasse sich noch eine gewisse Systematik erkennen. Für die persönliche Schuld der Soldaten im Sinne einer unmittelbaren, direkten Haftung für einzelne Ereignisse und Taten existiere schon wegen des außerordentlichen Quellenmangels keine einfache Formel (S. 802).
Das Werk wird abgeschlossen mit einer präzisen Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse und einem Überblick über die Einsatzräume der fünf Wehrmachtsverbände sowie des SS- und Polizeiapparats in der besetzten Sowjetunion von Juni bis Dezember 1941 (S. 816-847). Bei der Aufstellung der Divisionsgliederungen fehlt eine Übersicht über die Divisionskommandeure und die jeweiligen Generalstabsoffiziere (einschließlich deren Kurzbiographie), die erheblichen Einfluss auf das Verhalten der Divisionen hatten. Nützlich wäre auch ein Verzeichnis der Karten und Grafiken gewesen. Auch sei darauf hingewiesen, dass das knappe Inhaltsverzeichnis des umfangreichen Bandes dem Leser dessen Inhalt nur ansatzweise erschließt, da die Zwischenüberschriften grundsätzlich nicht mit aufgeführt sind (vgl. nur S. 586ff. für die Varianten des Sterbens in den Gefangenenlagern). In dem sehr breiten, gleichwohl immer gut lesbaren Werk Hartmanns kommen auch die rechtshistorischen Aspekte der Kriegsverbrechen der Wehrmacht hinreichend zur Sprache (insbesondere die Fragen der Geltung des Haager Landkriegsabkommens). Wenn auch eine weitgehende Freistellung von der Kriegsgerichtsbarkeit durch den Kommissarbefehl und den Kriegsgerichtserlass (hierzu S. 702) stattgefunden hat, so haben gleichwohl hinsichtlich des Verstoßes gegen das Völkerrecht einige Kriegsgerichtsprozesse stattgefunden, deren Verfahrensakten jedoch nur sehr lückenhaft überliefert sind (S. 475). Hierzu und zur speziellen Divisionsgerichtsbarkeit wären einige nähere Informationen nützlich gewesen (vgl. S. 475f.). Insgesamt liegt mit dem Werk Hartmanns eine hinreichend detaillierte und gleichwohl verallgemeinerungsfähige Untersuchung über die kollektive und individuelle Verantwortung der Wehrmacht an den Kriegsverbrechen im Osten sowie deren Voraussetzungen und Motivationen vor. Sie eröffnet dem Rechtshistoriker eine differenziertere Sicht der Kriegsverbrechen an den Kriegsgefangenen, den Armeekommissaren und Funktionären, den Partisanen und der Zivilbevölkerung sowie an den Juden, als dies die bisherigen Darstellungen zuließen.
Kiel |
Werner Schubert |