Hartmann, Christian, Wehrmacht im Ostkrieg. Front und militärisches Hinterland 1941/42. Oldenbourg, München 2009. VIII, 928 S. Besprochen von Werner Augustinovic.
Gut 800 reine Textseiten auf den ersten Blick, etwa die Hälfte davon beim genaueren Hinschauen (die zweite Hälfte wird von einem höchst unfangreichen Fußnotenapparat okkupiert) umfasst das Opus von Christian Hartmann, mit welchem der Chefredakteur der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte und namhafte Halder-Biograph das mehrjährige, um die Frage der Position der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg kreisende Forschungsvorhaben des Instituts für Zeitgeschichte monographisch zu einem Abschluss führt. Wie in anderen Publikationen im Rahmen des erwähnten Projekts trifft auch hier sein Interesse vor allem die Frage, „wie weit die Angehörigen einer Institution, deren Zweck die Gewalt war, nicht aber das Verbrechen, auch dafür verantwortlich gemacht werden können“. Von einer flächendeckenden empirischen Forschung oder einer Kenntnis aller Strukturen könne „noch längst nicht die Rede“ sein (S. 13). Dem will der Verfasser abhelfen. Es darf daher nicht überraschen, dass von den eingangs erwähnten 800 Seiten deutlich mehr als ein Drittel dem in einem eigenen Kapitel hervorgehobenen Aspekt der Verbrechen gewidmet werden. Der Rest der Studie liefert nebst Prolog und Einleitung jene Angaben, die zum Verständnis des Kernanliegens notwendig und nützlich sind.
Zunächst erhält der Leser detaillierte Informationen zum Aufbau, zur Struktur und zum sozialen Gefüge der Division, der im Fokus von Hartmanns Betrachtungen stehenden militärischen Organisationseinheit. Fünf Verbände der genannten Größenordnung, qualitativ von großer Unterschiedlichkeit, werden so – gleichsam als ein repräsentatives Modell der Wehrmacht im Kleinen – vorgestellt, genau durchleuchtet und im Hinblick auf ihre spezifische Rolle im Osteinsatz untersucht: der Eliteverband der 4. Panzerdivision; die hauptsächlich aus aktiven Soldaten des vormaligen österreichischen Bundesheeres rekrutierte, bewährte 45. Infanteriedivision; die im Gegensatz dazu aus Restpersonalbeständen improvisiert formierte 296. Infanteriedivision; die 221. Sicherungsdivision als typischer Besatzungsverband; schließlich der Korück 580 (= Kommandant/ur des rückwärtigen Armeegebiets), eine dem frontnahen Hinterland zugeordnete Etappenbehörde. In Ergänzung dazu werden unter interessanten Blickwinkeln Einblicke in Verlauf, Charakter und Topographie des Krieges an der Ostfront im betrachteten Zeitraum vermittelt, in Faktoren, die einen prägenden Einfluss auf das konkrete Geschehen vor Ort nehmen sollten und bei dessen nachträglicher Beurteilung entsprechend berücksichtigt werden müssen. Dass es beispielsweise „im Ostheer weder zu Meutereien noch zu Massendesertionen kam“, lag so schlichtweg vor allem an einem Problem: der nicht leicht zu lösenden „Frage nach dem ‚Wohin’“ (S. 460).
Im Zuge seiner einführenden allgemeinen Überlegungen zum Thema Verbrechen kommt der Verfasser schließlich auch auf die – nicht nur für den Juristen immer wieder fundamentale – Frage nach Recht und Unrecht zu sprechen; in vielen Fällen – nicht bei den außer Diskussion stehenden Massenverbrechen an den sowjetischen Kriegsgefangenen oder dem Holocaust, sehr wohl aber bei Exzesstaten im Gefecht und im Partisanenkrieg - sei eine Grenzziehung schwierig. Eine präzise Unterscheidung zwischen regulärem und irregulärem Kampf sei schon deshalb ein großes Problem gewesen, weil „das damals gültige Kriegsrecht der Wirklichkeit des Krieges schon längst nicht mehr entsprach“, indem „die beiden Haager Friedenskonferenzen den systemimmanenten Widerspruch zwischen humanitärer Rücksichtnahme und militärischer Effizienz nicht wirklich aufgelöst hatten“ (S. 476).
Im Fall des „Kommissarbefehls“ zur unverzüglichen Liquidierung der politischen Funktionäre der sowjetischen Armee werde jedenfalls „das Vorsätzliche besonders deutlich“; Kommissare und Funktionäre waren „keine ganz gewöhnliche Opfergruppe, sie repräsentierten ein Regime, an dessen ‚terroristisch-totalitärem Grundzug’ kein Zweifel“ bestand, weshalb die Wehrmachtsführung „an einer Auseinandersetzung, die das Prädikat ‚juristisch’ auch nur ansatzweise verdient hätte, … kein Interesse“ hatte (S. 514). In Konsequenz daraus wurde den Kriegsgerichten wie den Standgerichten der Kommanden jede Mitwirkung untersagt.
Ausführlich widmet Hartmann seine Aufmerksamkeit anschließend der Behandlung der Kriegsgefangenen, deren Schicksal er zunächst für den Bereich der Gefechtszone und anschließend für das Hinterland in Augenschein nimmt. Ihr Schutz war durch die Haager Landkriegsordnung und die ergänzende Genfer Kriegsgefangenenkonvention von 1929 präzise geregelt, moderne rechtliche Instrumentarien, über die man auf deutscher Seite bestens unterrichtet gewesen sei. Dennoch oder gerade deshalb setzten das Oberkommando der Wehrmacht (OKW) mit der Anordnung zum „Kriegsgefangenenwesen in Fall Barbarossa“ und das Oberkommando des Heeres (OKH) mit den „Besonderen Anordnungen für die Versorgung“ essentielle Teile dieser völkerrechtlichen Normen von vorneherein außer Kraft, ohne diese selbst explizit zu negieren. Recht und Moral hätten für die deutsche Kriegsgefangenenpolitik aber stets nur eine marginale Rolle hinter einem dominanten militärischen Zweckdenken gespielt, das die hilflosen Gefangenen schließlich „auf die unterste Stufe einer perversen ‚Ernährungshierarchie’ drängen“ sollte (S. 573). Für die Phase von Kampf und Gefangennahme ergebe sich, dass die Gefangennahme noch die Normalität, der Mord die Ausnahme gewesen sei; nach entbehrungsreichen Märschen in den Stammlagern angekommen, seien dort von den bisher Überlebenden schließlich zwei Drittel (!) – also zwei von drei Millionen Menschen - zugrunde gegangen, mit Masse elend verhungert.
Auch bei der Verortung des Holocaust zeigen sich Parallelen zu den Kriegsgefangenen, indem die Beteiligung von Wehrmachtsteilen nirgendwo „so groß wie in den rückwärts gelegenen Militärverwaltungsgebieten“ gewesen sei. Ihre „größte Schuld“ liege darin, „dass das Vernichtungswerk der Einsatzgruppen ohne die Vorarbeit der Wehrmacht und ohne deren logistische und administrative Unterstützung niemals diese Ausmaße erreicht hätte“ (S. 696).
Im Gegensatz zum Kriegsgefangenenwesen war das Phänomen des Partisanenkriegs rechtlich nur wenig erschlossen. In der Haager Landkriegsordnung von 1899 und ihrer Modifizierung von 1907 waren die wesentlichen Fragen nach der Legitimität eines irregulären Kampfes gegen eine Besatzungsmacht auf der einen und nach den Sanktionsmöglichkeiten auf der anderen Seite unzureichend geregelt, viele andere – wie jene der Definition des besetzten Gebietes, des Status von gemischten Gruppen (Kombattanten und Nicht-Kombattanten) oder der Verhältnismäßigkeit einer Repressalie – juristisch praktisch ungeklärt. Diese völkerrechtlichen Defizite erleichterten den Rechtsbruch in einer Situation, in der die Erfahrungen „des Vertrauensbruchs, der Ohnmacht, einer Bedrohung aus allernächster Nähe … den Wunsch nach Vergeltung“ förderten und damit auch „die Unterscheidung zwischen Gegnern, Mitläufern und unbeteiligten Zivilisten oft ebenso … wie die Grenzen zwischen militärisch begründeten Gegenmaßnahmen und einer rein rassenideologisch motivierten ‚Flurbereinigung’“ auflösten (S. 764).
Der Komplex der Rückzugsverbrechen war – konträr zu vielen anderen Untaten – weitgehend von den Frontverbänden zu verantworten, denn sie verließen als letzter Teil der deutschen Besatzungstruppen die Sowjetunion. Obwohl die Strategie der „verbrannten Erde“ in der Geschichte nicht neu war und im Rahmen eines Räumungs- und Vernichtungsprogramms 1941 zuerst von Stalin praktiziert wurde, erreichte dieses Mittel angesichts der dramatischen Lage an den Fronten beim Rückzug der Wehrmacht eine besondere Qualität. In letzter Konsequenz handelte es sich um ein militärisch, wirtschaftlich, politisch und ideologisch fundiertes „kollektives Selbstmordprogramm, in das die deutsche Führung möglichst viele hineinziehen wollte“ (S. 787). Die Tatsache, dass die Haager Landkriegsordnung diese primär gegen Wehrlose gerichtete, barbarische Form der Kriegsführung im Artikel 22 und in einigen weiteren Artikeln weitgehend eindämmt, wurde – wie leider auch heute noch in manchem Krieg – in der Praxis ignoriert.
Die Bedeutung des Buches von Hartmann ist insgesamt hoch einzuschätzen. Seine Methode des genauen Hinsehens und der Detailtreue, gestützt auf zahlreiche, vielfach neu erschlossene - auch private - Quellen, vermittelt ein realitätsnahes Bild von den Möglichkeiten, aber auch den Unwägbarkeiten und Sachzwängen, die in der jeweiligen konkreten historischen Situation den Handlungsspielraum der Akteure auf der untersuchten Führungsebene abgesteckt haben. Auf diese Weise liefert der Verfasser eine wesentliche Ergänzung und ein überzeugendes Korrektiv zu jenen Darstellungen, die bislang den Komplex Wehrmacht vorwiegend an Hand der Anordnungen ihrer zentralen Kommandostellen einer Beurteilung unterzogen haben. Denn was dort befohlen wurde, war – wie Hartmann überzeugend nachweisen kann – keineswegs immer das, was dann vor Ort geschah, wo lokale militärische Sachzwänge, psychologische Faktoren und höchst unterschiedlich sozialisierte Führungspersönlichkeiten das Geschehen entscheidend prägten. So lässt sein empirischer, interdisziplinär angelegter Zugang ein Stück lebensnaher Geschichte aufleben, das von revisionistischer „Kameradenliteratur“ genauso meilenweit entfernt ist wie von einer die Realitäten des Kriegsalltags verleugnenden, moralisierenden Pauschalhistoriographie. Dieser Weg scheint geeignet, das Erkenntnisspektrum zur jüngeren Geschichte deutlich zu erweitern, Denkanstöße zur Überarbeitung und Verbesserung der völkerrechtlichen Grundlagen zu liefern und als Modell für zukünftige Forschungen zu dienen.
Die bis auf die Ebene der Bataillone führenden Divisionsgliederungen (leider ohne Angabe der verantwortlichen Kommandanten), 30 Seiten Tabellen zur Kooperation der fünf untersuchten Verbände mit Dienststellen des SS- und Polizeiapparats unter dem Titel „Kriegführung, militärische Besatzungspolitik und Holocaust“, ein umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis sowie jeweils ein Orts- und ein Personenregister vervollständigen dieses mit fotografischen Abbildungen, Tabellen und Statistiken reich versehene Werk.
Kapfenberg Werner Augustinovic