Greifswald - Spiegel deutscher Rechtswissenschaft 1815 bis 1945, hg. v. Lege, Joachim. Mohr (Siebeck) 2009. XIV, 554 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Greifswald nahe der Ostsee zählt zu den wenigen deutschen Städten, in denen bereits im Mittelalter eine Universität eingerichtet wurde, an der sich in den ersten siebzig Jahren immerhin durchschnittlich fast 50 Studierende immatrikulierten. Auf die Länge blieb sie freilich eher im Hintergrund. Dessenungeachtet ist es sehr zu begrüßen, dass der Herausgeber auf Anregung Stanley Paulsons den Versuch wagte, in einer in der Pfingstwoche 2007 stattfindenden Tagung die große Zeit der deutschen (Rechts-)Wissenschaft aus der Perspektive einer kleinen Universität zu rekonstruieren, wobei es nicht so sehr darum ging, berühmte, in Greifswald zumindest kurz lehrende oder lehren sollende Namen zu sammeln, sondern aufzuzeigen, wofür Greifswald und andere bis heute stehen (etwa Positivismus, Freirechtsschule, Interessenjurisprudenz).

 

Der in Lübeck 1957 geborene, nach dem Studium der Rechtswissenschaft in Bielefeld und Freiburg im Breisgau von 1987 bis 1995 bei Reinhold Zippelius in Erlangen-Nürnberg am Institut für Rechtsphilosophie und allgemeine Staatslehre tätige, 1997 in Freiburg im Breisgau für öffentliches Recht und Rechtsphilosophie habilitierte, 1998 an die Technische Universität Dresden und 2003 an die Universität Greifswald berufene Herausgeber erklärt im ersten der insgesamt sieben Teile die Tagung und ihre Geschichte. Danach berichtet Hans-Georg Knothe sorgfältig und detailliert über die äußere Geschichte der Greifswalder juristischen Fakultät von 1815 bis 1945. Am Ende des Monats Mai 1945 befahl die sowjetische Besatzungsmacht die vorläufige Einstellung des Lehrbetriebs zwecks Durchführung von Entnazifizierungsmaßnahmen und schloss von der am 29. Januar 1946 verfügten Wiedereröffnung die rechts- und wirtschaftswissenschaftliche Fakultät, von deren Mitgliedern Emig, Küchenhoff, Rehfeldt und Seraphim in Kriegesgefangenschaft geraten waren und die der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei als Mitglieder angehörigen Molitor und Peters 1946 entlassen wurden, aus bisher nicht ganz geklärten Gründen aus, so dass die Fakultät erst in der Bundesrepublik Deutschland 1991 wieder errichtet werden konnte.

 

Der zweite Teil des Werkes betrifft die Grundlagenfächer. In ihrem Rahmen berichtet Joachim Rückert von Friedrich Carl von Savigny (1779-1861) Greifswalder Ruf des Jahres 1804 und Savignys neuer Wissenschaft im Recht des Besitzes. Andreas Funke zeigt allgemeine Rechtslehre als Lehre von den juristischen Grundbegriffen am Beispiel Ernst Rudolf Bierlings (1841-1919).

 

Dem Zivilrecht widmen sich fünf Beiträge. Bernd-Rüdiger Kern befasst sich mit Georg Beseler (1809-1888), Ulrich Falk mit Bernhard Windscheid (1817-1892), Rudolf von Jhering und der Begriffsjurisprudenz, Maximiliane Kriechbaum mit dem Übergang von der Pandektistik zum Positivismus am Beispiel Ernst Immanuel Bekkers (1827-1916), Shu-Perng Hwang mit der Freirechtsbewegung in der Person Ernst Stampes (1856-1942) und Heinrich Schoppmeyer mit der Interessenjurisprudenz Philipp Hecks (1858-1943) als durchreflektierter Methode. Für das Strafrechtswissenschaft und Strafrechtspraxis geht Peter Collin auf Heinrich von Friedberg (1813-1895) ein.

 

Den größten Raum nimmt danach das öffentliche Recht im engeren Sinn ein. Betrachtet werden dabei Carl Sartorius (1865-1945) und Felix Storck (1851-1908), denen Wolfgang März eine gewisse Unsterblichkeit verleiht, Eduard Hubrich (1864-1921) als staatsrechtlicher Positivist (Joachim Lege/Philip Rusche), Rudolf Smend (1882-1975) als Vertreter der Verfassung der Verfassung, Günther Holstein (1892-1931) in der Rückwendung zum Rechtsidealismus, Erwin Jacobi (1884-1965, Martin Otto), Carl Schmitt (1888-1985) mit seinem Greifswalder Intermezzo und der symbolischen Bedeutung in der Bahnhofstraße (Reinhard Mehring), Arnold Köttgen (1902-1967) und das bestehende Verwaltungsrecht (Maximilian Wallerath) und Gerhard Leibholz (1901-1982) auf dem Weg von der Weimarer zur Bonner Republik (Manfred H. Wiegandt). Die dabei bezogenen Positionen sind vielfältig und auch recht gegensätzlich.

 

Den großen Fachgebieten folgen drei Querschnitte. Dabei fragt Bernd Rüthers nach der durch Carl Schmitt entfesselten Jurisprudenz, verfolgt Filippo Ranieri den europäischen Aufstieg und Niedergang des rechtswissenschaftlichen Modells der deutschen Pandektistik und vergleichen Joachim Lege und Zai-Wang Yoon Recht als Recht und Recht als Politik bei Bierling, Heck und Hans Kelsen (1881-1973). Zum Abschluss führen Lena Foljanty und Sonja Gelinek nachtragsweise weitere bedeutende Greifswalder Juristen und einen Nationalökonomen an.

 

Am Ende zieht der Herausgeber über Spiegel und Rahmen ein Resümee und gewinnt zwei Standortbestimmungen. Ein Personenverzeichnis, ein Sach- und Ortsverzeichnis, ein kleines Schrifttumsverzeichnis und ein Autorenverzeichnis runden das Werk vorteilhaft ab. Insgesamt bietet die Tagung auch aus der Sicht des Herausgebers ein buntes Bild, in dem der Standort des Betrachters und der Standort des Spiegels von erheblicher Bedeutung sind, Greifswald aber trotz seiner Randlage in der untersuchten Zeit durchaus Gewicht hatte und entgegen skeptischer Prognose hoffentlich auch in mindestens gleicher Weise auf absehbare Zeit behalten wird.

 

Innsbruck                                                                                           Gerhard Köbler