Godfrey, Andrew Mark, Civil Justice in Renaissance
Die
Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Ancien Régime haben sich in den
vergangenen Jahrzehnten zu einem gewichtigen Zweig der frühneuzeitlichen
Rechtsgeschichte entwickelt. Die einschlägigen deutschen „Quellen und
Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich“ liegen inzwischen in
56 Bänden vor. Mehrfach sind auch europäische Vergleiche gezogen worden, so auf
Tagungen 1993[1]
und 2006[2]
sowie auf dem Rechtshistorikertag in Halle 2006[3].
Damit lässt sich besonders gut erkennen, inwieweit sich die Gerichtsverfassung
des Alten Reiches (Königliches Kammergericht, Reichskammergericht,
Reichshofrat) in allgemeine europäische Justizmodernisierungen einfügt oder
spezifisch mitteleuropäische Besonderheiten aufweist. Der europäische Rahmen
ist jetzt um einen weiteren Baustein bereichert. Der schottische
Rechtshistoriker Mark Godfrey (Glasgow) legt nach einigen kleineren Vorstudien
eine umfangreiche, quellengesättigte und perspektivenreiche Untersuchung vor, welche
die schottische Höchstgerichtsbarkeit von der ersten Hälfte des 15. bis zur
Mitte des 16. Jahrhunderts behandelt.
Für die
Geschichte der schottischen Gerichtsverfassung sind zwei Ausgangspunkte
entscheidend, die auch für Godfrey immer wieder den Hintergrund der
Argumentation bilden. Zum einen hat man bisher Schottland als Fehdegesellschaft
angesehen, die erst Ende des 16. Jahrhunderts befriedet worden sei. Zum anderen
gab es seit 1426 einen Court of Session, ein ständiges Gericht mit enger
Verflechtung zunächst zum Parlament, dann zum königlichen Rat. 1532 wurde die
Session zwar als College of Justice neu organisiert, doch eine ältere
wirkmächtige Lehre, die vor allem in den 1920er und 30er Jahren von Robert Kerr
Hannay begründet wurde, sah hierin lediglich einen Durchlaufposten. Die Session
sei schon viel früher fest institutionalisiert worden, zugleich sei die
Befriedung der schottischen Gesellschaft erst Jahrzehnte später möglich
gewesen. Godfrey gelingt es durch minutiöse Quellenexegese, die überkommene
Sichtweise durch ein im wesentlichen anderes Bild zu ersetzen. Erstens zeigt er
in intensiver Auseinandersetzung mit der Ansicht Hannays, dass die Errichtung
des College of Justice 1532 das zentrale Ereignis der frühneuzeitlichen
schottischen Justizgeschichte darstellt. Zweitens zwingt der erstaunliche
Erfolg der Session bzw. des College of Justice in den 1530er Jahren dazu, die
Rede von der bis ins späte 16. Jahrhundert allgegenwärtigen Fehdekultur
erheblich einzuschränken. Schottland war zugleich eine Gerichts- und Streitschlichtungsgesellschaft,
denn verschiedene Möglichkeiten der Konfliktlösung bestanden über lange Zeit
nebeneinander. Hier hätte Godfrey gut an allgemeinhistorische Arbeiten zur
Verrechtlichung sozialer Konflikte (Winfried Schulze, Peter Blickle, André
Holenstein und andere) anknüpfen können. Jedenfalls aus deutscher Perspektive
stimmt man ihm spontan und nachdrücklich zu, denn auch die Errichtung des
Reichskammergerichts 1495 war eher die Neuorganisation des bereits bestehenden
Königlichen Kammergerichts und nicht eine völlige Neugründung. Godfrey rennt
also hierzulande offene Türen ein, nicht dagegen in Schottland, wie seine weit
ausholenden Widerlegungen älterer Literaturmeinungen belegen.
Die
Einzelergebnisse von Godfreys Arbeit sind so vielfältig, dass man sie an dieser
Stelle nicht ausbreiten kann. Einige wenige Hinweise müssen genügen. Die ersten
drei der neun Kapitel widmen sich der Institutionengeschichte. In der Session
spiegelt sich die langsame Verlagerung der rechtsprechenden Tätigkeit vom
Parlament zum königlichen Rat. Die Anbindung der Session, die zunächst nur
unregelmäßig, eben in „Sessionen“, zusammentrat, an das Parlament wurde nach
und nach gelockert. Seit dem späten 15. Jahrhundert bestand die Session bis
1626 aus Mitgliedern des königlichen Rates, wenn auch gelegentlich die Session
beim Parlament um die authentische Interpretation von Gesetzen nachsuchte. Die
entscheidende Zäsur geschah nach Godfrey 1532. Mit der Errichtung des College
of Justice wurde die Teilnahme an der Session auf bestimmte Räte beschränkt.
Nicht mehr jedes Mitglied des Council war fortan automatisch richterlich tätig.
Für die Ausdifferenzierung von Justiz und Regierung in Schottland war das
wegweisend. Bereits vor 1532 war die Session nach und nach zum höchsten Gericht
erstarkt, hatte eine erhebliche Zunahme an Prozess- und Schlichtungstätigkeit
bei 100 Sitzungstagen pro Jahr zu verzeichnen, ebenso die Berührung mit neuen
Verfahrensformen und Argumentationstechniken. Es war also nicht die in der
älteren Literatur postulierte Krise der Session, die zur Gründung des College
of Justice führte, sondern gerade ihr Erfolg. Diesen Erfolg veranschaulicht
Godfrey sodann in den Kapiteln vier bis sieben. Durch die Untersuchung
gelehrter Terminologie, die spezifische Art der Klageerwiderung als Exzeption
und durch Zitate gemeinrechtlicher Literatur und Rechtsquellen kommt Godfrey zu
dem Ergebnis, dass die Session wie viele andere Höchstgerichte in Europa die
Rezeption des römischen Rechts beförderte bzw. selbst im Zuge der Rezeption reformiert
und professionalisiert wurde. Das erkennt man nicht zuletzt an der praktisch
unbeschränkten sachlichen Zuständigkeit. In der schottischen Tradition gab es
die lang hergebrachte Gewohnheit, Streitfälle über „fee and heritage“ (Eigen
und Erbe) nur vor ordentlichen Untergerichten oder dem Parlament auszutragen,
nicht aber vor der königlichen Session. Die Prozesspraxis zeigt nun, wie
derartige Streitsachen dennoch vor der Session anhängig gemacht wurden. Selbst
wenn die Gegenseite die exceptio
forideclinatoria erhob, hatte sie seit 1513 damit in keinem Fall Erfolg.
Rein tatsächlich unterlag die Zivilgerichtsbarkeit der Session also keinen
Begrenzungen. Besonders originell sind Kapitel acht und neun, die beiden
letzten Abschnitte des Buches. Godfrey wendet sich dort gezielt der
nicht-urteilenden Tätigkeit der Session zu. Die Quellenbasis dafür ist günstig,
denn die Protokollbücher der Session enthalten zahlreiche Hinweise darauf, dass
die Mitglieder der Session von den Parteien auch als Schiedsrichter gewählt
wurden, um Streitigkeiten ohne förmliches Gerichtsverfahren zu schlichten. In
einigen Fällen kamen die Parteien sogar mit einer außergerichtlichen Einigung
vor die Session und erhofften sich von deren Mitgliedern eine autoritative
Bekräftigung der privaten Vergleiche. Sehr treffend zieht Godfrey daraus den
Schluss, die hoheitlich-öffentliche und privat-konsensuale Konfliktlösung
hätten sich gar nicht als zwei gegensätzliche Modelle gegenübergestanden,
sondern seien häufig ineinander übergegangen. Hier ergeben sich vielfache
Anknüpfungspunkte für verschiedene aktuelle Forschungsvorhaben zu Informalität
und Streitbeilegungen. Die Umsicht, mit der Godfrey lautstarke Thesenbildung
und Zuspitzungen vermeidet, ist dabei immer wieder vorbildlich. Die Wahrheit ist
eben leise.
Das
Schlusskapitel bettet die Untersuchung in vier größere Zusammenhänge ein und
gelangt auf diese Weise doch zu einer gewissen Ausweitung. Zunächst betont
Godfrey die enge Verbindung zwischen zunehmender zentraler Gewalt und der
Errichtung eines höchsten Gerichts. Aus deutschem Blickwinkel könnte man auch
vom Zusammenhang von Staatswerdung und Modernisierung der Justiz sprechen.
Immerhin war die iurisdictio das
entscheidende Herrschaftsrecht eines Monarchen im 16. Jahrhundert. Zweitens
meint er, in der erfolgreichen Schaffung einer funktionierenden
Obergerichtsbarkeit spiegele sich ein verändertes Verhältnis von Staat und
Gesellschaft. Für Konfliktlösungen werde zunehmend die obrigkeitliche
Institution zuständig. Dies zeige drittens die sich wandelnde Rolle von Gesetz,
Recht und Norm in der Gesellschaft des ausgehenden Mittelalters. Die vielfache
Anrufung der Session in ganz unterschiedlichen Konflikten steht demnach für das
Bewusstsein, durch gerichtliche Streitentscheidung bzw. Streitschlichtung
gewaltfrei zur Lösung rechtlicher Auseinandersetzungen zu kommen. Viertens
stellt Godfrey in Anlehnung an David Ibbetson Überlegungen zur Natur des
Rechtswandels in der spätmittelalterlichen Gesellschaft dar. Wenn einerseits
die Zuständigkeit der Session de facto
unbegrenzt war, andererseits aber Anwälte noch über Jahrzehnte die
Unzulässigkeit von Prozessen um Eigen und Erbe erfolglos geltend machten, so
prallten hier möglicherweise altes und neues Rechtsdenken aufeinander, die in
der Zeit aber als gleichrangige Sichtweisen wahrgenommen worden sein können. Ob
die so konstatierte „rechtliche Ambiguität“, die es sicherlich gab, nicht viel
weitergehend und epochenübergreifend die Geschichte der Gerichtspraxis prägte,
könnte man im Anschluss an diese Andeutungen fragen und in späteren
Untersuchungen zu klären versuchen.
Godfrey
liefert also viel Material zum Nachdenken, auch über das partikulare
schottische Beispiel hinaus. Wenn man unbedingt etwas kritisieren will, sind
das nur Marginalien. Vielleicht ist es überspitzt, die sachliche Zuständigkeit
eines Gerichts im frühen 15. Jahrhundert in de
facto und de jure aufzuspalten.
Nach der gelehrten Doktrin war nämlich die praktische Beachtung zugleich ein
Kriterium für die Geltung einer Norm, so dass diese Abgrenzung in einer Zeit,
in der Gesetzestexte nur relative Autorität besaßen, gerade brüchig war.
Vertiefung hätten auch die gelegentlichen Hinweise auf den Usus und Stylus
Curiae verdient. Von hier aus hätten sich Anknüpfungen an die Arbeiten zur
frühneuzeitlichen Usualinterpretation angeboten. Das sind aber nichts als
Kleinigkeiten. Die Behutsamkeit, in der Godfrey Schnellschüsse vermeidet, die
Quellen ganz zurückhaltend interpretiert und gerade durch diese unaufgeregte
Exegese auf der Basis zahlreicher mühsam erzielter Einzelfunde zum Schluss doch
das Feld ganz neu vermisst, erweisen ihn als quellenkundigen und
methodensicheren Rechtshistoriker von Rang. Dem Buch, an dem er inklusive
Vorarbeiten fast zehn Jahre gearbeitet hat, ist auch außerhalb Schottlands die
Beachtung zu wünschen, die es verdient.
Münster Peter
Oestmann
[1] Bernhard Diestelkamp (Hg.),
Oberste Gerichtsbarkeit und zentrale Gewalt im Europa der frühen Neuzeit, 1996.
[2] Leopold Auer/Werner Ogris/Eva Ortlieb
(Hgg.), Höchstgerichte in Europa. Bausteine frühneuzeitlicher Rechtsordnungen,
2007.
[3] Rolf Lieberwirth/Heiner Lück
(Hgg.), Akten des 36. Deutschen Rechtshistorikertages Halle an der Saale 2006,
2008, S. 525[3]
Bernhard Diestelkamp (Hg.), Oberste Gerichtsbarkeit und zentrale Gewalt
im Europa der frühen Neuzeit, 1996.
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