Fried, Johannes, Das Mittelalter. Geschichte und Kultur, 3. Aufl. Beck, München 2009. 606 S., 70 Abb. Besprochen von Tilman Struve. ZRG GA 127 (2009) 20

 

Das hier anzuzeigende Buch ist kein Buch zum Nachschlagen, sondern zum Lesen. Den Leser erwartet auch keine in sich zusammenhängende Geschichte des Mittelalters. Vielmehr werden einzelne, zugegebenermaßen subjektiv ausgewählte, doch dem Verfasser wesentlich erscheinende Entwicklungslinien verfolgt, welche die hier zu betrachtende Periode jeweils auf ihre Weise geprägt haben. Den aufmerksamen Leser erwartet dabei eine Fülle von Erscheinungen, die zusammengenommen für die Zeit von 500 bis 1500 prägend waren. In 12 Kapiteln werden Personen, Institutionen, geistige Entwicklungen, verfassungsmäßige Einrichtungen und eschatologische Spekulationen vorgestellt. Die Darstellung hinterlässt somit einen disparat anmutenden Eindruck,  was jedoch den Intentionen des Verfassers entsprochen haben dürfte.

 

Fried kennzeichnet Europa als ein Konglomerat von dem Niedergang preisgegebener Provinzen des ehemaligen Römischen Reiches; dies war eine Entwicklung, die durch den Zentralismus von Herrschaft und Wirtschaft unter Justinian beschleunigt worden sei. Dadurch kam es zu einer Sonderentwicklung von West und Ost, die durch diesen Kaiser gefördert wurde. Das Zentrum des Westens wurde aus dem Mittelmeerraum in den Norden verlagert. Erst unter Karl dem Großen und mehr noch unter seinem Sohn, Ludwig dem Frommen, in Verbindung mit dessen Ratgeber Benedikt von Aniane wurde die Regel des heiligen Benedikt zur allein verbindlichen Regel des mittelalterlichen Mönchtums. Die Kirche diente der Festigung der weltlichen Herrschaft. Der Bund des Papsttums mit dem fränkischen Königtum bezeichnet der Verfasser als eine „welthistorische Wende“. Die Pippinische Schenkung bildete die Grundlage des Kirchenstaats bis hinein in das 19. Jahrhundert. Das Reich Karls des Großen war jedoch kein Staat, sondern als Königsmacht und Königsherrschaft ein auf den König zentrierter Personenverband. Die gelasianische Zweigewaltenlehre bildete die Norm für die Vorstellung von weltlicher Herrschaft im christlichen Abendland. Der karolingische Hof übernahm die Funktion eines Bildungszentrums. Karl der Große rettete das antike Bildungsprogramm der sieben „freien Künste". Die Frage nach der Zeit führte zu Frühformen abendländischer Wissenschaft. Die Verbindung von Salbung und Krönung wurde zum konstitutiven Akt der Kaisererhebung. Sie ist ein Exklusivrecht des Papstes während des gesamten Mittelalters. Die Stärkung von Ordnung und Recht, Glauben und Gottesdienst im Sinne einer.Verdichtung von Herrschaft führte nach Auffassung der Zeitgenossen zu einer Verzögerung des endzeitlichen Untergangs. In dieser Phase abendländischer Entwicklung waren Klöster und Stifte die Hauptträger der religiösen und intellektuellen Kultur. Glauben und Wissen bildeten noch eine unzertrennbare Einheit. Freilich war die literarische Bildung einer Klerikalisierung unterworfen. Eine entscheidende Weichenstellung für die Zukunft erfolgte in der Abkehr von der Teilungstradition der Franken. Noch zu Lebzeiten seines Vaters wurde Otto der Große zum Herrscher gesalbt. Allerdings war diese Königsmacht durch eine Herrschaft durch Konsens beschränkt. Gleichzeitig erfuhr die königliche Würde jedoch eine bis dahin nicht gekannte Sakralisierung: Gottesdienst wurde zur Herrscherpflicht. Als Ordnungskriterien galten dieser Zeit Königsnähe, adelige Herkunft und Besitz, Forst- und Bannrechte sowie Abgaben und Dienste, nach denen sich die Gesellschaft in Herrschende und Beherrschte gliederte. Das 10. Jahrhundert wurde durch einen Aufbruch ins Vernunftzeitalter geprägt: Die Wissenskultur befand sich in Übereinstimmung mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit. In dem Maße, wie sich das Papsttum zu einer monarchischen Institution entwickelte, erfolgte im Gegenzug die Abgrenzung einer eigenberechtigten weltlichen Sphäre. Unter dem Motto „Der wahre Kaiser ist der Papst“ wird im Zeitalter des Investiturstreites die Abdrängung des Königtums in die Weltlichkeit am Beispiel Manegolds von Lautenbach verfolgt. Parallel zu diesem Prozess erfolgte eine immer stärker um sich greifende Juridifizierung der Kirche. Infolge der um die Jahrtausendwende zunehmenden Endzeiterwartung erfolgte eine Zuflucht zur Astrologie. Daraus entwickelte sich eine mathematische, in die Naturwissenschaft mündende Himmelskunde. Die Wiederentdeckung der Digesten Justinians im Umkreis der Markgräfin Mathilde von Tuszien-Canossa zu Ende des 11. Jahrhunderts gab der gelehrten Diskussion einen mächtigen Auftrieb. Das römische Recht als „Kaiserrecht“ stand fortan im Dienste des römisch-deutschen Königs. Aristotelische Physik, Psychologie und Politik mitsamt ihren arabischen Kommentatoren waren in der Wissenskultur des Westens zusammengeflossen. Die gelehrte Zuwendung zur Natur diente insgesamt der Rezeption des aristotelischen Schrifttums. Der deutsche Thronstreit zwischen Staufern und Welfen wurde jedoch zum Vorteil der römischen Kirche und des Papsttums genutzt. Aus dem Konflikt zwischen dem Überfluss, an dem auch die Kirche partizipierte, und dem Liebes- und Armutsgebot der christlichen Heilsbotschaft heraus entstanden die Bettelorden. Die Emanzipation des Bürgertums führte immer mehr zu dessen aktivem Eingreifen in die Politik. Die Kontroverse um die beste Regierung beflügelte in Gestalt der Fürstenspiegelliteratur das politische Denken der Zeitgenossen. Der Gesetzgeber erschien hiernach gleichsam in einem Akt säkularisierter Theologie als Mittler zwischen Gott und der Welt. Im deutschen Reich kam es allerdings zu keiner Ausbildung dauerhafter Institutionen: Es war mangels entsprechender Institutionen allein gegenwärtig im jeweiligen König. Die Macht des Papsttums schrumpfte hingegen auf eine bloße Territorialgewalt zusammen.

 

Der Verfasser kennzeichnet das Mittelalter als ein Zeitalter der Vernunft: Kaum ein Zeitalter sei so sehr der Vernunft verfallen gewesen wie das Mittelalter. Daran hatten Denker der „Schule“ von Chartres wesentlichen Anteil. Wilhelm von Conches war es, der die gesamte Schöpfung aus natürlichen Ursachen heraus zu erklären versuchte. Es war die aristotelische Physik, welche die Welt von natürlichen Ursachen zu denken lehrte. Die gesamte Schöpfung wurde von der Logik und den Naturwissenschaften her erschlossen. Hinzu kam die Bologneser Wissenschaft, die Europa durch die juristische Methode grundlegend verändern sollte. Hieraus entwickelte sich eine umfassende Gesellschaftslehre. Durch den Untergang der Staufer in Reichsitalien entstand freilich ein Machtvakuum. Das heilige Römische Reich schrumpfte auf die deutschsprachigen Gebiete zusammen. Frankreich galt hinfort als Vorbild und Maß aller Könige Europas. Im 15. Jahrhundert wurde der Humanismus zur beherrschenden geistigen Bewegung. Im Zuge des Konziliarismus wurde das Konzil dem Papsttum übergeordnet. Christentum und Reich sind allerdings zu keiner gemeinsamen Aktion mehr fähig gewesen. Der Kaiser beteiligte sich nicht mehr am Kreuzzug. So kennzeichnet das Mittelalter ein nicht mehr aufzuhaltender Prozess der Säkularisation des Denkens. Bereits im 16. Jahrhundert wurde durch Kopernikus die Sonne als Mittelpunkt des Kosmos und die Erde als einer ihrer Trabanten erkannt. Das Mittelalter schuf, so Johannes Fried, die Grundlage der modernen Nationen; es erfand den Bürger als eines „mit Kollektiv­Privilegien ausgestatteten Angehörigen“ einer Stadtgemeinde. Der Fürst Macchiavellis wurde „Ausgangspunkt frühneuzeitlichen, mithin modernen Staats-Denkens“. Der Verfasser beschließt das anregende Buch mit der Feststellung: „Die geistige und kulturelle Einheit Europas, die Einheit der vielen Königreiche und Nationen, sah sich im Mittelalter grundgelegt.“

 

Köln                                                                                       Tilman Struve