Francisco de Vitoria, De lege. Über das Gesetz, hg., eingeleitet und ins Deutsche übersetzt. v. Stüben, Joachim. Mit einer Einleitung v. Brieskorn, Norbert (= Politische Philosophie und Rechtstheorie des Mittelalters und der Neuzeit, Reihe 1 Texte und Untersuchungen 1). frommann-holzboog, Stuttgart 2009. XXXIII, 260 S. Besprochen von Tilman Repgen.

 

Joachim Stübens fulminante Edition und Übersetzung von Vitorias Lex-Traktat aus dem Summenkommentar eröffnet die von Alexander Fidora, Heinz-Gerd Justenhoven, Matthias Lutz-Bachmann und Andreas Niederberger herausgegebene neue wissenschaftliche Reihe zur politischen Philosophie und Rechtstheorie des Mittelalters und der Neuzeit. Stüben hat bereits 1995 und 1997 zwei umfangreiche Bände mit Text und Übersetzung von Vorlesungen Vitorias zu Völkerrecht, Politik und Kirche publiziert. Außerdem liegt ein Ausschnitt aus dem Summenkommentar, der die Lehre vom gerechten Krieg betrifft (STh II-II, q. 40), vor (lat.-dt. Edition unter dem Titel „Kann Krieg erlaubt sein? Eine Quellensammlung zur politischen Ethik der Spanischen Spätscholastik, hg. v. Heinz-Gerhard Justenhoven und Joachim Stüben, Stuttgart 2006, S. 78-107). Während die bisher vor allem verbreiteten Relectiones des Vitoria (z. B. De Indis) Spezialvorlesungen zu besonderen Themen waren, gehörte die Behandlung der Summa theologica des Thomas seit 1526/1527 zum regelmäßigen Programm der Lecturae des Vitoria. Ihre Überlieferung beruht auf Unterrichtsmitschriften. Vitoria vertieft in seinem Lex-Traktat auf der Grundlage der Lehre des Thomas von Aquin (STh I-II, qq. 90-108) und vor dem Hintergrund der politischen Fragen im Zusammenhang mit der Eroberung der Neuen Welt die Lehre vom Gesetz. Er sieht es eingebunden in das ewige Gesetz Gottes, das sich ausformt im Naturrecht und im geoffenbarten göttlichen Gesetz. Menschliches positives Recht hat sich an diesen beiden Ausprägungen der lex aeterna zu orientieren. Das Gesetz hat nach Vitoria – wie es letztlich biblischer Tradition entspricht – eine „rettende“ Funktion in der Heilsgeschichte. Diese im Mittelalter verbreitete Sicht trifft am Übergang zur Neuzeit auf neue Fragestellungen, denen Vitoria eine schlüssige Antwort zu geben versucht, ohne den Boden der Tradition zu verlassen, aber doch indem er das alte Lehrgebäude ausbaut oder – um das bekannte Bild zu verwenden – auf die Schultern seiner Vorgänger steigt und von dort aus nun weiter sieht als zuvor. Stüben spricht mit Recht von einer „konstruktiven Anwendung der Tradition auf Gegenwartsthemen“(S. XXXVII).

 

Dem Text des Summenkommentars ist eine elegante Einleitung aus der Hand Norbert Brieskorns vorangestellt. Er erläutert die Quelle, indem er zunächst einmal auf den Lex-Traktat des Thomas eingeht und über die Anlage der Summa theologica selbst informiert. Ohne diese Kenntnis wären Aufbau und Inhalt des Kommentars von Vitoria kaum verständlich. Thomas behandelt die Frage des Gesetzes im Zusammenhang der Erörterung des Weges des Menschen zu Gott. Zwar wird der Mensch durch den diabolus vom Weg abgedrängt, aber Gott hilft dem Menschen durch das Gesetz und die Gnade, um auf dem rechten Weg zu bleiben. Den Abschnitt über das Gesetz kommentierte Vitoria in achtzehn Vorlesungen des Studienjahrs 1533/1534 in der hier vorliegenden Quelle. Es geht – wie bei Thomas, dessen Systematik Vitoria einigermaßen streng folgt – um den Begriff des Gesetzes, seine Arten, das Gesetz des Alten und des Neuen Bundes. Brieskorn bietet eine Zusammenfassung des Inhalts nach der Gliederung des Vitoria. Dabei macht er auf einige Punkte, die jedenfalls aus der Sicht des modernen Betrachters wichtig erscheinen, besonders aufmerksam, so z. B. die Erwähnung subjektiver Rechte zu q. 105, art. 2 oder die Erkenntnismöglichkeit des Naturrechts im Gewissen auch ohne Gottesbezug (q. 94, artt. 2 und 5; q. 100, artt. 1 und 8; q. 105, art. 2). Staat und Kirche sind für Vitoria relativ unabhängig. Weltliche Gesetze verpflichten aus sich selbst. Auch der König ist dem Gesetz unterworfen. Er ist nicht „Eigentümer“ des Staates. Das Thema der Gleichheit des Menschen, das Vitoria in seiner relectio De Indis beschäftigt hat, kommt in De lege nur am Rande zur Sprache (q. 100, art. 10 und q. 103, artt. 3 und 4).

 

Die vorliegende Ausgabe von De lege ist die erste vollständige zweisprachige Edition dieses Teils des Summenkommentars Vitorias. Der lateinische Text beruht auf der ersten gedruckten Ausgabe durch Vicente Beltrán de Heredia (Francisco de Vitoria, Comentario al tratado de la ley [I-II, qq. 90-108], Fragmentos de relecciones, Dictamenes sobre cambios, Madrid 1952, S. 11-92). Die Vorlesungsmitschriften sind zeitgenössisch nicht publiziert worden. Grundlage ist die im Vatikan aufbewahrte Handschrift „Codex Ottobonianus Latinus 1000“. Synoptisch dem lateinischen Text gegenübergestellt findet der Leser die durchweg sehr sorgfältige deutsche Übersetzung, die sich eng an das Original hält und so den Gedankengang des Vitoria deutlich werden lässt (S. 1-193). Es folgt der Anhang mit Abkürzungsverzeichnis, wissenschaftlichen Anmerkungen, Lesarten des Textes, Verzeichnis der von Vitoria benutzten Quellen, Bibliographie zu Vitorias De lege, Sach- und Personenregister. Der Anmerkungsapparat dient unter anderem dem Nachweis der Quellen Vitorias, die teilweise wörtlich wiedergegeben und übersetzt werden. Damit erbringt Stüben eine sehr wertvolle Leistung: er versetzt den Leser in die Lage, in die gelehrte Welt des Vitoria einzutauchen. Im Übrigen setzt sich Stüben in den Anmerkungen mit den sonstigen (Teil-)Übersetzungen von De lege auseinander bzw. gibt kritische Anmerkungen zum Text. Waren bislang vor allem die Relectiones des Vitoria bekannt, so ermöglicht doch erst der vergleichende Blick auf die ordentlichen Vorlesungen Vitorias ein vollständigeres Bild dieses interessanten Gelehrten am Beginn der Neuzeit.

 

Damit ist ein Umstand angesprochen, der ein aktuell wachsendes Interesse an Vitoria und anderen Autoren der spanischen Spätscholastik erklärt. Diese Denker stehen an einer Schnittstelle von Mittelalter und Neuzeit. Sie bleiben ganz in der Tradition, weisen aber doch über sie hinaus. Sie kennen bereits den Renaissancehumanismus, die Verschiebung des Weltbildes durch die Entdeckung der Neuen Welt, wissen um die Reformation, den Zerfall der christlichen Einheit auch im Abendland, stehen in einer geistigen Auseinandersetzung mit einer sich neu ordnenden Welt, in der die gerade entstehende Nationalstaatlichkeit mit übergeordneten Zusammenhängen Kirche und universaler monarchischer Reichsideen konfrontiert ist. Ausgehend von der Schule von Salamanca, an deren Beginn Vitoria steht, sind die aufgeworfenen Zeitfragen aus dem Blickwinkel von Theologie, Philosophie und Rechtswissenschaft behandelt worden – von Wissenschaftlern, die diese Fächer in Personalunion beherrschten. In den Verunsicherungen einer globalisierten Welt, in der überkommene Ordnungen in Frage gestellt werden, die Institution des Staates in eine Krise geraten ist, politische Strukturen internationaler Art entwickelt werden, angesichts einer Zeit, in der die Begegnung mit anderen kulturellen Traditionen den Zusammenhang von Recht und Religion zu einem aktuellen Thema machen, lohnt heute die historische Auseinandersetzung mit dem Denken des spanischen Zeitalters in besonderer Weise. Es ist kein Zufall, dass der Impuls zu dieser neuen Wahrnehmung der Spätscholastiker aus den Fragen der Friedensethik und politischen Philosophie kommt. Die Quellen zeigen aber auch klar, dass die Beteiligung der Rechtswissenschaft an diesem Diskurs nicht fehlen darf. Die Rechtsgeschichte sollte also nicht abseits stehen bleiben. Manche Lücken sind in den vergangenen Jahren schon geschlossen worden, aber das Meiste ist noch zu tun. Diese Arbeit beginnt bei der Erschließung der Quellen, wozu die hier besprochene Edition einen sehr wertvollen Beitrag leistet.

 

Zeitgleich mit dem Quellenband ist in dieser Reihe als Bd. II, 1 ein Sammelband zu Lex und Ius erschienen (vgl. meine Besprechung in dieser Zeitschrift). Dass die Herausgeber der Reihe die Quellenedition (und Übersetzung) an die erste Stelle gesetzt haben, enthält eine programmatische Botschaft, die aus der Perspektive historischer Forschung volle Zustimmung verdient. An erster Stelle müssen die Quellen stehen. Und so ist es ebenfalls konsequent und besonders begrüßenswert, dass die Publikation die lateinische Quelle trotz des höheren Aufwands bei der Bearbeitung und im Druck vollständig enthält. Den Herausgebern und dem Verlag ist zu gratulieren, dass die Umsetzung des Vorhabens in perfekter Form gelungen ist.

 

Hamburg                                                                                            Tilman Repgen