Feuchtwanger, Edgar, Englands deutsches Königshaus. Von Coburg nach Windsor, aus dem Englischen von Popp, Ansger. Duncker & Humblot, Berlin 2010. 276 S., Bildtaf. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Nur wenigen Menschen wird ein ganzes Zeitalter zugeordnet. Zu ihnen zählt Alexandrina Victoria, die im Kensington Palace in London am 24. Mai 1819 als Tochter des Herzogs von Kent und Strathearn und Victoria von Sachsen-Coburg-Saalfeld geboren wurde und zu diesem Zeitpunkt die fünfte Stelle in der britischen Thronfolgeordnung einnahm. Sie erfuhr am Dienstag, dem 20. Juni 1837, dass sie nach Wegfall aller vorrangigen Thronerben infolge des nicht unerwarteten Todes des einundsiebzigjährigen Königs Wilhelm IV. kurz nach ihrer Volljährigkeit tatsächlich Königin des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Irland geworden war, die sie bis zu ihrem Tode am 22. Januar 1901 in Osborne House auf der Isle of Wight auch blieb.

 

Vor allem mit ihrem Leben befasst sich unter einem allgemeineren Titel das dicht geschriebene Werk des in München 1924 als Neffe des bekannten, seit 1933 außerhalb des Deutschen Reiches lebenden jüdischen Schriftstellers Lion Feuchtwanger geborenen Verfassers, der nach Auswanderung der Familie im Jahre 1939 in England erzogen wurde und sich dem Studium der Geschichte an der Universität Cambridge widmete. Er wurde bereits auf Grund der 1968 in Oxford veröffentlichten Habilitationsschrift mit dem Titel Disraeli, Democracy and theTory Party zu einem vorzüglichen Sachkenner der Entwicklung des englischen Parteiensystems in der Zeit Königin Viktorias. Vor allem in Southampton lehrend vertiefte er seine Kenntnisse durch Arbeiten über Preußen (1972), die Weimarer Republik (1993), Gladstone (1975), Disraeli 2000) und Bismarck (2002) sowie den die Jahre von 1865 bis 1914 betreffenden Band einer zehnbändigen Geschichte Englands, so dass ihm 2006 unter dem Titel Albert und Victoria. The Rise and Fall of the House of Saxe-Coburg-Gotha in gewisser Weise die Bilanz eines gesamten Zeitalters in Form einer weitgespannten Biographie möglich war.

 

In chronologischer Ordnung beginnt der Verfasser sein in zwölf Kapitel gegliedertes Werk mit Viktoria und durchläuft das Leben über Coburg, den gleichaltrigen Coburger Cousin Albert, mit dem Viktoria im Februar 1840 die Ehe schloss, die Königin und den Prinzgemahl. Kontroversen und Konflikte, Triumph und Verleumdung, die preußische Ehe, die verhältnismäßig frühe Verwitwung (1861), die Matriachin der Monarchen, Bertie und den Kaiser bis zum Ende des viktorianischen Zeitalters mit der anschließenden letzten Schlacht. Das Leben der königlichen Familie weist zahllose bunte Facetten auf, die der Verfasser auch mit drastischen Formulierungen vielfach bis in letzte Einzelheiten verfolgt. Angesichts der persönlichen Schwächen, der Belastungen durch neun Geburten und der sich wandelnden politischen Kräfteverhältnisse erweist sich die Kennzeichnung eines Zeitalters nach Victoria trotz ihres Aufstiegs zur Kaiserin von Indien im Jahre 1876 als eher überraschend, doch kann dies der überzeugenden Leistung des dem Verlag über seinen Vater Ludwig Feuchtwanger (München 1885-Winchester 1947) aus den Jahren von 1915 bis 1933 eng verbundenen Verfassers keinen Eintrag tun.

 

Innsbruck                                            Gerhard Köbler