Festschrift 150 Jahre Deutscher Juristentag, hg. v. d. Ständigen Deputation des Deutschen Juristentages durch Busse, Felix. Beck, München 2010. XVIII, 763 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Anders als die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erschienenen Festschriften von 1960 (Hundert Jahre Deutsches Rechtsleben 1860-1960, hg. v. E. v. Caemmerer/E. Friesenhahn/R. Lange; Fortsetzung durch die Darstellung von G. Dilcher, Der Deutsche Juristentag 1860 bis 1980. Zeitgeschichte und Rechtspolitik) und von 1994 (Der Deutsche Juristentag 1860-1994, hg. v. H. Conrad/G. Dilcher/H.-J. Kurland, 1997) wird die Arbeit des Deutschen Juristentags, wie bereits in der Festschrift von 1910 (Ph. Olshausen: Der deutsche Juristentag. Sein Werden und Wirken), in der neuen Festschrift für alle wesentlichen Rechtsgebiete einer rechtswissenschaftlichen Gesamtschau und Wirkungskontrolle unterworfen (S. VI, Busse).

 

Der Band wird eingeleitet mit einer Geschichte des Vereins Deutscher Juristentag und seiner Deutschen Juristentage unter der Überschrift: „Der Deutsche Juristentag – Ein Charakterbild – 1860 bis 2010“ (Rainer Maria Kiesow, S. 3-100). Wie der Herausgeber in seinem Vorwort feststellt, hat Kiesow „etwas abweichend von dem von mir vorgeschlagenen Konzept eine sehr subjektive und sehr kritische ,Kulturgeschichte des Deutschen Juristentages’ geschrieben“, die bei manchen Widerspruch herausfordern werde (S. VII). Der Beitrag Kiesows, der auch über zahlreiche Einzelheiten aus dem Ablauf der Juristentage berichtet, beginnt nach einer knappen Einleitung mit der Schilderung des nationalsozialistischen Deutschen Juristentags vom 30. 9.-3. 10. 1933 in Leipzig – der DJT, dessen Präsidium sieben Juristen jüdischer Herkunft angehörten, hatte bereits im April 1933 den für September 1933 geplanten 37. DJT abgesagt (1937 Auflösung des Vereins Deutscher Juristentag). Nach Kiesow hat der DJT es versäumt, sich nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Rolle der Juristen in der NS-Zeit auseinanderzusetzen und stattdessen vielen namhaften Juristen der NS-Zeit „sein Podium“ geöffnet (vgl. Busse, S. VII). Nicht zuletzt dürfte dies auf die ersten Ständigen Deputationen des Deutschen Juristentags nach dem Kriege (Vorsitzender Ernst Wolff, der aus der Emigration zurückgekehrt war) zurückzuführen sein, die auf die Mitarbeit namhafter, in der NS-Zeit hervorgetretener Juristen – man kann diese mit Loewental als Neodemokraten bezeichnen – nicht verzichten wollte (zu den entwickelten Entlastungsstrategien S. 69, 71). Nähere Aufschlüsse über diese Fragen könnte vielleicht eine auf archivalischer Grundlage erarbeitete Darstellung der Anfänge der Deutschen Juristentage (beginnend mit dem Konstanzer und dem Bad Godesberger Juristentag 1947) bringen. In diesem Zusammenhang dürfte auch eine detaillierte Biographie über Ernst Wolff (1949 Präsident des Obersten Gerichtshofs für die Britische Zone) nützlich sein. Der Beitrag Kiesows besteht zu wesentlichen Teilen aus oft stichwortartigen Zitaten von den Wortbeiträgen der Juristentagsteilnehmer, ein Verfahren, das sich zur Charakterisierung der Redner gut eignet und zahlreiche Nuancen der Texte zutage fördert, die man sonst leicht übersehen könnte. Allerdings ist der Beitrag Kiesows insoweit eher zu lang geraten, zumal die mitunter plakative Kommentierung nicht immer erforderlich war. Mit Recht hebt Kiesow den Juristentag von 1931 (S. 51ff.; Diskussion über die Gleichberechtigung der Geschlechter mit Beteiligung Marianne Webers und anderer Juristinnen), den DJT von 1966 (S. 78ff.; Sonderveranstaltung mit dem Thema: „Probleme der Verfolgung und Ahndung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen“) und die Tagungen der 1970er Jahre hervor (S. 83ff.).

 

Im Teil 2 der Festschrift berichten 17 Autoren in 16 Beiträgen über die „fachliche Arbeit der Deutschen Juristentage und ihre Wirkungen“. Barbara Dauner-Lieb/Johannes W. Flume behandeln für das allgemeine Zivilrecht vor allem die Fragen des Erb-, Haftungs-, Schuldvertrags- und Sachenrechts (S. 115 zur Ablehnung eines Registerpfandrechts 1976 aus überwiegend praktischen Gründen, die angesichts der technischen Entwicklung nunmehr wohl nicht mehr zutreffen). Der Beitrag Dagmar Coester-Waltjens über das Familienrecht geht ein auf Fragen der Gleichberechtigung der Geschlechter sowie des Ehe- und Kindschaftsrechts (S. 127ff.). Sehr umfangreich war der Beitrag des Deutschen Juristentags zum Handels-, Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht (Friedrich Kübler, S. 155ff.) sowie zum Aktien-, Konzern- und Kapitalmarktrecht (Michael Hoffmann-Becking, S. 185ff.). Das aktienrechtliche Referat Pinners aus dem Jahre 1926 ist nach Hoffmann-Becking „auch für den heutigen Leser eine Fundgrube voll von treffenden Beobachtungen und Bemerkungen zur Praxis der Aktiengesellschaft“ (S. 199). Der Überblick Rolf Stürners über das Gebiet des Zivilprozessrechts (S. 221ff.) macht deutlich, dass man „nicht oder nur eingeschränkt“ sagen könne, der DJT sei „wie in der Gründerphase das wesentliche prozesspolitische Forum gewesen“ (S. 238). Eine Schlüsselrolle nimmt der Beitrag Rainer Hamms (S. 243ff.) über das Gebiet des materiellen Strafrechts (vgl. den DJT von 1926 mit der „auch politisch fatalen Diskussion über die Privilegierung des Überzeugungsverbrechens“; S. 268, 248ff.) ein. Im Beitrag Reinhard Böttchers über das Strafprozessrecht (S. 269ff.), mit dem sich der DJT immer sehr intensiv befasste, stehen Fragen der Laienbeteiligung und der Gestaltung des Rechtsmittelzugs im Mittelpunkt. Das Staats- und Verfassungsrecht (S. 305ff., H.-Peter Schneider) und das Verwaltungsrecht (S. 345ff., Klaus-Peter Dolde) spielen erst nach dem Zweiten Weltkrieg eine dem Zivil- und Strafrecht gleichwertige Rolle. Lesenswert sind die Abschnitte über das Recht der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse (S. 326 f.), über das Staatshaftungs- und das Umweltrecht (S. 354ff., 363ff.). Mit dem Arbeitsrecht befasste sich der Deutsche Juristentag seit 1905 rund dreißigmal (S. 371ff., Manfred Weiss). Bei den Beratungen bestand seit den 1970er Jahren die Gefahr, dass die eine Seite durch die andere (Arbeitgeberseite und Arbeitnehmerseite) majorisiert werde. Nach einer Majorisierung der Abstimmungen auf dem DJT von 1978 und 2004 verzichtete der Abteilungsvorsitzende 2006 auf eine Abstimmung der Thesen. Beratungsgegenstände waren u. a. das Arbeitskampfrecht (Boykott), der Tarifvertrag, die vertraglich und außervertragliche Haftung im Arbeitsverhältnis sowie Fragen der Begründung und Beendigung eines Arbeitsverhältnisses (DJT 1978). Das Sozialrecht bildet seit 1960 einen eigenen Beratungsbereich in Arbeitsgemeinschaften und Abteilungen (hierüber Otto Ernst Krasney, S. 411ff.). Die Themen betrafen – mit Ausnahme der Forderung nach einer Pflegeversicherung – nicht die großen sozialrechtlichen Kodifikationen. Jedoch wurden vom DJT aufgezeigte Fehlentwicklungen zum Teil nicht weitergeführt. Das Steuerrecht war bereits auf den Juristentagen von 1921 und 1924 Gegenstand der Beratungen (S. 445ff., Paul Kirchhof). Nach 1949 wurden u. a. behandelt die Rechtsformneutralität der Besteuerung von Unternehmen sowie die Einkommensteuer und deren Vereinfachung. Die Einführung des Ehegattensplittings (1957) geht auf einen Vorschlag Erna Schefflers zurück (S. 462). Über das Europarecht (seit 1992) berichtet Hans-Jürgen Rabe (S. 467ff.), über den Datenschutz (seit 1970) Spiros Simitis (S. 501ff.). Mit dem Anwaltsrecht setzten sich die Juristentage von 1860-1878 und dann wiederum seit 1976 auseinander (S. 477ff., Felix Busse). Bereits 1863 und 1871 trat der DJT für eine Trennung des Notariats von der Anwaltschaft ein, ohne dass dieser Wunsch bisher in Erfüllung gegangen ist. Die Juristenausbildung beschäftigte den DJT in der Kaiserzeit wiederholt (S. 523ff., Ulrich Stobbe). Die „ideologisch aufgeladene und emotional angeheizte Auseinandersetzung“ über die Juristenausbildung (Ein- oder Zweiphasenmodell) erreichte auf dem 48. DJT in Mainz ihren Höhepunkt (S. 549ff.). Der Juristentag von 1998 lehnte das von Behrens (Justizminister von Nordrhein-Westfalen) vorgeschlagene Ausbildungsmodell ab (S. 557).

 

In Teil 3 der Festschrift geht es um die Frage, was die Arbeit des Deutschen Juristentags für den Gesetzgeber, die Verwaltung, die Rechtsprechung, die Organe der Rechtspflege und für die Wirtschaft bedeutet habe und welche Erwartungen sich hieran in Zukunft knüpfen (S. VIf.). Lutz Diwell (Staatssekretär des Bundesministeriums der Justiz von 2005 bis 2009) stellt die Beiträge des Deutschen Juristentags zum Zivilprozess-, Familien-, Haftungs-, GmbH- und Aktienrecht sowie zum Straf- und Strafprozessrecht heraus. Rainer Robra (Chef der Staatskanzlei und Europaminister des Landes Sachsen-Anhalt) listet die Beiträge des Deutschen Juristentags zum Verwaltungsrecht auf (S. 585ff.); so beschäftigte sich der DJT u. a. wiederholt mit der 1985/86 gescheiterten Verwaltungsprozessordnung, dem Umweltschutz- und dem Subventionsrecht. Nach Hans-Jürgen Papier befasst sich das Bundesverfassungsgericht häufig mit den Verhandlungen des Deutschen Juristentags und berücksichtigt dabei auch die Beiträge aus der Frühzeit des Deutschen Juristentags (S. 605ff.). Christoph Frank (Vorsitzender des Deutschen Richterbundes, Oberstaatsanwalt in Freiburg) bringt aus der Sicht der Richter- und Staatsanwaltschaft zahlreiche Beispiele für die Nachhaltigkeit der Arbeit des Deutschen Juristentags im Bereich des Verfahrensrechts und der Struktur der Justiz. Von besonderem Interesse ist die Thematik des Deutschen Juristentags von 2004: „Chancen und Risiken einer Reform des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens“ (S. 628ff.) im Hinblick auf die noch immer nicht erfolgte Neugestaltung des 10. Titels des Gerichtsverfassungsgesetzes über die Stellung der Staatsanwaltschaft. Aus der Sicht der Anwaltschaft sind nach Eberhard Haas (Präsident der Bundesrechtsanwaltskammer von 1991 bis 1999) die Vereinheitlichung des Prozessrechts, die Befassung des Deutschen Juristentags mit Fragen der Schuldrechtsreform (erstmals 1902 mit der positiven Forderungsverletzung) und mit den Bestrebungen des Deutschen Juristentags zur Stärkung der freien Advokatur von Bedeutung (S. 641ff.). Hans-Peter Benckendorff (Rechtsanwalt, ehemaliger Syndikus der Deutschen Bank) geht hinsichtlich der Sicht der Wirtschaft auf die wirtschaftlich relevanten Themen ein, mit denen sich der DJT seit 1960 befasst hat (u. a. Publizität außerhalb der Aktiengesellschaft, Kreditsicherheit, Konsumentenkredit, Stellung der Banken zur Aktiengesellschaft und Anlegerschutz).

 

In Teil 4 berichten sieben ehemalige Vorsitzende der Deputation des Deutschen Juristentags, die auch für zwei oder drei Juristentage deren Präsidenten waren (Konrad Redeker, Günther Weinmann, Marcus Lutter, Hans-Jürgen Rabe, Reinhard Böttcher, Paul Kirchhof und Martin Henssler) darüber, „wie sie die Aufgabe des Deutschen Juristentags verstanden haben, wo sie die Stärken und Schwächen und den Standort des Vereins in der vor uns liegenden Zeit sehen“ (S. VII). Redeker weist auf die sehr kontroversen Beratungen von 1970 über die Scheidungsrechts- und die Ausbildungsreform (S. 676ff.) hin. Lutter setzte, als 1986 die politische Neutralität des Deutschen Juristentags gefährdet war, zu deren Sicherung eine Satzungsänderung durch (S. 696ff.). Rabe baute die Kontakte des Deutschen Juristentags zum Rechtsausschuss des Bundestages und zu den Landesjustizministerien aus (S. 700f.). Seit 1996 befasst sich der DJT auch mit einem aktuellen Thema (S. 704). Unter Böttcher wurde den Studenten die Mitgliedschaft im DJT ermöglicht (S. 716). Unter Kirchhof wurde die Höchstzahl der Beschlussvorschläge in den „Richtlinien“ auf 25 Vorschläge als Sollvorschrift aufgenommen (S. 726). Die letzten Beiträge befassen sich im Übrigen mit dem von deutscher Seite initiierten Europäischen Juristentag, der erstmals 2001 in Nürnberg stattfand.

 

Wie die Beiträge der Festschrift verdeutlichen, war der DJT ein wichtiger Akteur der Rechtsentwicklung Deutschlands insbesondere in der Zeit bis 1914 und dann wieder in der Zeit der Bundesrepublik zumindest bis in die 80er Jahre. Im Hinblick auf den reichhaltigen Inhalt insbesondere der Beiträge wäre ein Namens- und Sachverzeichnis sehr hilfreich gewesen. Nützlich wäre es auch gewesen, wenn die aktuelle Fassung der Satzung, wie dies in der Festschrift von 1960 geschehen war, mit abgedruckt worden wäre. Insgesamt werden wichtige Diskussionen und Entwicklungen der letzten 150 Jahre auf allen Gebieten des Rechts durch die Beiträge in der vorliegenden Festschrift, die auch bei den Rechtshistorikern Beachtung finden sollten, erschlossen.

 

Kiel

Werner Schubert