Elobied, Tarig, Die Entwicklung des Strafbefehlsverfahrens von 1846 bis in die Gegenwart. (= Juristische Zeitgeschichte, Abteilung 3 Beiträge zur modernen deutschen Strafgesetzgebung 36). De Gruyter, Berlin 2010. XVI, 279 S. Besprochen von Gerhard Köbler.
Die Arbeit ist die 2009 von der Fernuniversität Hagen approbierte Dissertation des Verfassers. Nach einem vorangestellten Satz befasst sie sich mit einem Kind der Praxis, das aus einem Kompetenzkonflikt zwischen Polizei und Justiz hervorging, sich dann als integraler Bestandteil des Verfahrensrechts etablierte und schließlich zu einem unverzichtbaren Bestandteil der Strafprozessordnung wurde. Dort in den §§ 407-412 geregelt, zeigt sich die enorme praktische Bedeutung des Strafbefehlsverfahrens bereits in der Tatsache, dass das Ermittlungsverfahren etwa genauso häufig durch den Antrag auf Erlass eines Strafbefehls wie durch Erhebung der Anklage endet.
Die Arbeit beschränkt sich auf den Verfahrensgang Strafbefehlsverfahren. Dieser steht in Gegensatz zum ordentlichen Anklageprozess, für den seit dem Liberalismus des frühen 19. Jahrhunderts die Grundsätze der Mündlichkeit, der Öffentlichkeit und des rechtlichen Gehörs kennzeichnend sind. Demgegenüber entscheidet bei dem Strafbefehlsverfahren der Richter über einen Antrag des Anklägers ohne Anberaumung einer Hauptversammlung auf Grund der Aktenlage, so dass Mündlichkeit, Öffentlichkeit und rechtliches Gehör nicht oder nur unzulänglich beachtet werden.
Da der Verfasser im Gegensatz zu Erbe, Mayer und Müller nicht nach Vorläufern des Strafbefehlsverfahrens sucht, beginnt er seine erstes Kapitel über den Strafbefehl im Strafverfahrensrecht der Staaten des Deutschen Bundes mit den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts, in denen in Preußen die durch den schriftlichen, geheimen Inquisitionsprozess gekennzeichnete Kriminalordnung des Jahres 1805 galt, neben der es eine konfliktbehaftete Administrativjustiz der Polizeibehörden mit ausgedehnter Strafbefugnis bei Polizeivergehen gab. Danach schildert er die Entstehung des durch den Polenaufstand vom Anfang des Jahres 1846 veranlassten Gesetzes betreffend das Verfahren in den bei dem Kammergericht und dem Kriminalgericht zu Berlin zu führenden Untersuchungen vom 17. Juli 1846, das am 10. Oktober 1846 in Kraft trat, in dessen Rahmen als Kompromiss auch ein auf Polizeivergehen beschränktes Mandatsverfahren in den §§ 122-128 aufgenommen wurde. Durch Verordnung über die Einführung des mündlichen und öffentlichen Verfahrens mit Geschworenen vom 3. Januar 1849 wurde der mündliche öffentliche Anklageprozess auf ganz Preußen (mit Ausnahme des Bezirks des Appellationsgerichtshofs zu Köln) ausgedehnt und das in zwei Punkten geänderte Mandatsverfahren (in den §§ 171-177) übernommen.
Obwohl ursprünglich die polizeiliche Strafbefugnis vollständig beseitigt werden sollte, wurde wegen dadurch befürchteter Kompetenzverluste für die Polizei das Mandatsverfahren als obligatorische, formale Straffestsetzung des Richters auf Grund einer polizeilichen Anzeige ausgestaltet. Dazu kam wenig später die Überlegung, dass geringfügige Angelegenheiten nicht die Kosten eines ordentlichen Verfahrens rechtfertigen. In den anderen, nur kurz behandelten Mitgliedstaaten des Deutschen Bundes, von denen etwas mehr als die Hälfte das Mandatsverfahren kannte, lehnte man sich in der Ausgestaltung des Strafbefehlsverfahrens stark an das preußische Recht an, wobei der Verfasser die Bezeichnung Strafbefehl zwar mit Hannover verbindet, aber keinen genauen Zeitpunkt für die Entstehung benennt.
Im zweiten Kapitel behandelt der Verfasser die Zeit der Monarchie zwischen 1971 und 1918, in die der Erlass der vereinheitlichenden Reichstrafprozessordnung (1877/1879) fällt, im dritten Kapitel die Weimarer Republik, im vierten Kapitel die Zeit zwischen 1933 und 1945 und im fünften Kapitel das Strafbefehlsverfahren in der Bundesrepublik Deutschland mit einem Exkurs zur Deutschen Demokratischen Republik. Im Ergebnis stellt er fest, dass die stete Ausweitung des Strafbefehlsverfahrens zur Aushöhlung des ordentlichen Strafverfahrens führt, dass diese Entwicklung aber aufgehalten werden muss. Allerdings rechnet der Verfasser der sorgfältigen, überzeugenden, durch hilfreiche Anhänge angenehm abgerundeten Untersuchung selbst damit, dass der stete Tropfen der langjährigen Forderung nach Ausweitung des Strafbefehlsverfahrens letztlich den Stein höhlen und deshalb die Sanktionsgewalt zunächst auf zwei Jahre Haft und dann der sachliche Anwendungsbereich über die Vergehen hinaus auch auf Verbrechen ausgeweitet werden wird.
Innsbruck Gerhard Köbler