Ein Zivilprozess am Reichskammergericht. Edition einer Gerichtsakte aus dem 18. Jahrhundert, eingeleitet und hg. v. Oestmann, Peter (= Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im alten Reich 55). Böhlau, Köln 2009. XXIII, 615 S. Besprochen von Hans-Georg-Knothe.

 

Die in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts maßgeblich von Bernhard Diestelkamp initiierte Forschung auf dem Gebiet der Reichsgerichtsbarkeit des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit hat in den letzten Jahrzehnten erhebliche Fortschritte gemacht. Die hierbei gewonnenen Erkenntnisse über Geschichte, Einrichtung, Verfahren, politische Bedeutung u. ä. von Reichskammergericht und Reichshofrat spiegeln sich besonders in der nunmehr auf über 50 Bände angewachsenen Reihe „Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich“ und der „Schriftenreihe für Reichskammergerichtsforschung“ wider. Die grundlegenden normativen Quellen zu Verfassung und Verfahren des Reichskammergerichts (RKGO v. 1555, JRA v. 1654) liegen mittlerweile in den von Adolf Laufs besorgten modernen Editionen vor.

 

Die Auswertung der jeweils über 70.000 Prozessakten der beiden Reichsgerichte als den wichtigsten Quellen für das law in action befinden sich dagegen noch in den Anfängen. Mit dem hier zu besprechenden Werk hat sich Peter Oestmann der anspruchsvollen Aufgabe unterzogen, eine äußerst umfangreiche Akte über ein beim Reichskammergericht in der Mitte des 18. Jahrhunderts anhängig gewesenes Appellationsverfahren erstmals vollständig zu edieren. Für diese von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Arbeit ist der Herausgeber aufgrund seiner Habilitationsschrift „Rechtsvielfalt vor Gericht“ (2002), der Monographie „Hexenprozesse am Reichskammergericht“ (1997) und weiterer einschlägiger Veröffentlichungen hervorragend ausgewiesen. Bei der Auswahl der Prozessakte ist ihm denn auch eine glückliche Hand zu bescheinigen. Die Akte gibt den Verlauf eines vollständig durchgeführten ordentlichen Prozessverfahrens in beiden Instanzen umfassend wieder. Der in der Freien Reichsstadt Lübeck angesiedelte Zivilrechtsstreit um eine Erbschaft wurde wegen der Standeszugehörigkeit der zum gehobenen Bürgertum zählenden Beteiligten, wegen der auch für damalige Verhältnisse relativ langen Verfahrensdauer von fast zwölf Jahren sowie wegen der entscheidungserheblichen grundlegenden Rechtsfragen von den Zeitgenossen als eine cause célèbre erachtet, die ein erhebliches Echo im juristischen Schrifttum auslöste. Der hochinteressante Fall vermittelt wertvolle Informationen nicht nur rechtsgeschichtlicher, sondern auch sozialgeschichtlicher Art.

 

Dem Verfahren lag ein im wesentlichen unstreitiger Sachverhalt zugrunde. Streitgegenstand war ein Anteil am Nachlass der 1744 ohne Testament verstorbenen Lübecker Bürgersfrau Catharina Haecks. Da die Erblasserin keine Abkömmlinge hatte und ihre Eltern und Voreltern bereits vorverstorben waren, kamen als Intestaterben neben dem Ehemann der Verstorbenen nur zwei Seitenverwandte in Betracht, nämlich eine Halbschwester ihrer Mutter, die Witwe des Delmenhorster Amtsvogts Anna von Spilcker, und ein vollbürtiger Bruder ihres Vaters, der Lübecker Bürgermeister Dr. Krohn. Die Witwe von Spilcker verlangte zunächst außergerichtlich vom Ehemann der Erblasserin als Besitzer des Nachlasses die Herausgabe eines ihrer behaupteten Erbquote entsprechenden Teils, was dieser verweigerte, da Dr. Krohn die gesamte auf die Verwandten entfallende Erbschaft für sich beanspruchte. Frau von Spilcker beantragte daraufhin mit ihrer im Herbst 1744 bei dem Rat (Magistrat) der Stadt Lübeck als zuständigem städtischem Obergericht gegen Dr. Krohn erhobenen Klage, sie zur Erbfolge in den auf sie entfallenden Erbteil zuzulassen und den Beklagten zu verurteilen, sie an der Besitzergreifung dieses Erbteils nicht zu hindern.

 

Der erstinstanzliche Rechtsstreit betraf während der ersten drei Jahre nur die Frage der vom Beklagten bestrittenen Identität der schon vor Jahrzehnten von Lübeck nach Delmenhorst verzogenen Klägerin mit der Halbschwester der Mutter der Erblasserin und, nachdem das Gericht mit einem Anfang 1746 als Zwischenurteil verkündeten Spruch der im Rahmen einer Aktenversendung angerufenen Juristenfakultät Halle den Identitätsnachweis durch Eidesleistung der Klägerin zugelassen hatte, die prozessuale Frage des Ortes der Eidesleistung, den die Klägerin vor dem Gericht ihres Wohnortes ableisten wollte, während der Beklagte die Ablegung vor dem Prozessgericht in Lübeck verlangte. Gegen das die Eidesleistung am Wohnsitzgericht gestattende weitere Zwischenurteil des Lübecker Magistrats vom März 1746 legte der Beklagte Revision ein. Der für die Entscheidung über dieses keinen Devolutiveffekt zeitigende Rechtsmittel zuständige Rat versandte die Akten an die Juristenfakultät Leipzig, welche die Revision mit dem in Lübeck im März 1741 verkündeten Urteil zurückwies, woraufhin die Klägerin im Juni 1747 in Delmenhorst den Legitimationseid leistete.

 

In dem nunmehr endlich eröffneten Hauptsacheverfahren ging die entscheidende Rechtsfrage dahin, ob für die Erbberechtigung zweier Prätendenten allein die Gradnähe ihrer Verwandtschaft zum Erblasser maßgeblich war, was vorliegend wegen der zu gleichem (drittem) Grade bestehenden Verwandtschaft der Parteien mit der Erblasserin zu einem jeweils hälftigen Erbrecht geführt hätte, oder ob dem vollbürtigen Seitenverwandten der Vorrang vor dem halbbürtigen zukam mit der Folge einer alleinigen Erbberechtigung des Beklagten. Die in den beiderseitigen Schriftsätzen (Klage-, Exzeptions-, Replik- und Duplikschrift) hierzu vorgebrachten Argumente betrafen rechtsdogmatische und rechtsgeschichtliche Grundsatzfragen, besonders das Verhältnis des gemeinen Rechts zum lübischen Statutarrecht und des römischen zum deutschen Recht, mit deren Behandlung sich die Parteienvertreter auf der Höhe des juristischen Wissens ihrer Zeit erwiesen. Zusätzlichen wissenschaftlichen Tiefgang erhielt die Auseinandersetzung noch durch beiderseits in den Prozess eingeführte und damit zum Bestandteil der Akte gewordene Abhandlungen zur Frage des Vorrechts der vollen Geburt, die von Verwandten der beiden Parteien wohl ad hoc verfasst worden waren. Da das dem gemeinen Recht gegenüber vorrangige Revidierte Lübische Recht von 1586 die hier entscheidungserhebliche Frage einer Konkurrenz zwischen voll- und halbbürtigen Geschwistern der Eltern des Erblassers nicht ausdrücklich regelte, sondern in Teil II, Titel 2 nur eine Bevorrechtigung jeweils der vollbürtigen Geschwisterkinder des Verstorbenen vor den Geschwistern von dessen Eltern (Art. 18) und der halbbürtigen Geschwisterkinder des Erblassers selbst vor den vollbürtigen Geschwisterkindern der Eltern (Art. 19) normierte, griff nach Ansicht der Klägerseite das subsidiäre Corpus Iuris Civilis ein, das in der justinianischen Novellengesetzgebung (Nov. 84, 118) das Privileg der vollen Geburt nur den Geschwister(kindern) des Erblassers, nicht aber dessen sonstigen Verwandten eingeräumt habe; allein diese Beschränkung habe das Lübische Recht in II 2 Artt. 18, 19 rezipiert, sodass insoweit zwischen beiden Rechten kein Unterschied bestände. Der Beklagte berief sich demgegenüber außer auf den behaupteten Naturrechtssatz, wonach „voll mehr denn halb“ sei, auf ein nach seiner Ansicht ursprüngliches deutschrechtliches Prinzip eines generellen Vorrangs der vollen Geburt, das in II 2 Artt. 18, 19 nur einen unvollkommenen Ausdruck gefunden habe, weshalb diese Vorschriften auf die übrigen Verwandten entsprechend anwendbar wären; die Beklagtenseite schloss sich damit der von den Vertretern des deutschen Rechts im 18. Jahrhundert – entgegen der älteren Jurisprudenz – befürworteten Analogiefähigkeit auch des Statutarrechts an. Im Wege eines Umkehrschlusses müsse daher der andernfalls überflüssigen ausdrücklichen Erwähnung der „vollen“ Geschwisterkinder der Eltern des Erblassers in Art. 19 entnommen werden, dass diese Norm auch innerhalb dieser Erbenordnung zwischen voll- und halbbürtigen Kindern im Sinne eines Vorrangs der erstgenannten differenziere. Erst recht müssten aber auch die einschlägigen Stellen des justinianischen Gesetzbuches  in diesem Sinne entsprechend angewendet werden, sodass auch nach Meinung des Beklagten beide Rechte zum gleichen – dem der Klägerin allerdings entgegengesetzten – Ergebnis führen würden.

 

Der Lübecker Rat griff auch in der Hauptsache zum Mittel der Aktenversendung, diesmal an die Juristenfakultät in Frankfurt an der Oder. Nach deren Spruch, dessen Entscheidungsgründe die Akte nicht enthält, hatte „die Klage wieder (sic!) den Beklagten nicht statt“. Der Lübecker Magistrat publizierte dieses klageabweisende Endurteil am 6. September 1748.

 

Das anschließende Appellationsverfahren zog sich über weitere acht Jahre hin (1748-1756). Davon wurde in den ersten zwei Jahren nur über die Zulässigkeit des Rechtsmittels gestritten. Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Appellation beim Reichskammergericht waren (1) die ordnungsgemäße Einlegung (interpositio appellationis) beim iudex a quo sowie (2) die ordnungsgemäße Einführung (introductio appellationis) beim iudex ad quem. Die Einlegung namens der im ersten Rechtszug unterlegenen Klägerin von Spilcker (= Appellantin) erfolgte formgerecht durch Errichtung einer notariellen Urkunde (Appellationsinstrument) in Gegenwart zweier Zeugen am 14. September 1748 und damit innerhalb der vorgeschriebenen Notfrist von zehn Tagen ab Verkündung des angefochtenen Urteils (fatale interponendae appellationis). Der Lübecker Rat als erstinstanzliches Gericht stellte mit Spruch vom 11. Oktober 1748 die Appellation „Oberrichtlichem Erkänntnis anheim“ und wich damit der ihm obliegenden Aufgabe einer verbindlichen Entscheidung über die Ordnungsmäßigkeit der Appellationseinlegung aus.

 

Die Ordnungsmäßigkeit der Appellationseinführung, über die das Reichskammergericht im Extrajudizialverfahren zu entscheiden pflegte, hing ab von den seitens des Appellanten nachzuweisenden Erfordernissen der wirksamen Appellationseinlegung sowie der Wahrung bestimmter Formalien (Appellationssolennien), wie der Leistung des Appellationseides (keine „frivole“ Appellation) und einer Kaution durch den Appellanten, der Beachtung eines eventuell bestehenden (begrenzten) Appellationsprivilegs, der Beibringung der erstinstanzlichen Prozessakte und der Einhaltung der für den Nachweis gesetzten richterlichen Fristen (fatalia introducendae appellationis). Das im Dezember 1748 mit der Einreichung der Supplikationsschrift durch den Prokurator Dr. Ruland der Appellantin eröffnete reichskammergerichtliche Verfahren betraf bis April 1750 nur die Frage der Erfüllung der Introduktionsvoraussetzungen. Es ging vor allem um die Vorlage der Akten des ersten Rechtszuges und die Leistung des Appellationseides durch die Appellantin selbst und deren Lübeckischen advocatus causae Backmeister. Die Aktenabschrift erstellte der Lübecker Magistrat als hierfür zuständiger iudex a quo weder innerhalb der ihm vom Reichskammergericht in der dem Rat und Backmeister am 9. Januar 1749 zugestellten Ladungs-, Inhibitions- und Kompulsorialschrift gesetzten Frist von 14 Tagen noch in den folgenden Monaten, was den Prokurator der Appellantin zu dem (versteckten) Vorwurf der Voreingenommenheit des Rates zugunsten des Bürgermeisters Dr. Krohn veranlasste. Die Eidesleistung der Appellantin wurde durch deren Tod am 7. März 1749 unmöglich, an deren Stelle ihre beiden Stiefkinder als Testamentserben in den Rechtsstreit eintraten. Backmeister leistete den Eid, was ihm durch Dekret des Lübecker Rates gestattet worden war, vor dem Oberappellationsgericht Celle am 14. März 1749. Dr. Ruland, der wegen der noch ausstehenden Prozessakten und der Abnahme des Eides der Erben von Spilcker als nunmehrige Appellanten wiederholt um Verlängerung der Introduktionsfrist hatte bitten müssen, leistete schließlich in Vertretung der Appellanten den Eid vor dem Reichskammergericht in dem Reproduktionstermin vom 27. August 1749, in dem er auch die Erfüllung der übrigen Formalien, insbesondere die erfolgte Kautionsleistung durch Bürgschaft eines Lübecker Kaufmanns nachwies. Auf seinen Antrag richtete das Reichskammergericht in einem am 28. Oktober 1749 zugestellten Zwischenurteil an den Lübecker Magistrat unter Strafandrohung nochmals die „ernstliche Mahnung“ zur Aktenübersendung, die dann Anfang 1750 in beglaubigter Abschrift endlich erfolgte. Im Frühjahr 1750 stellten die Parteien ihre Anträge im Hauptverfahren, die seitens der Appellanten auf Verurteilung des Appellaten nach dem Klageantrag unter Aufhebung des angefochtenen Urteils, seitens des Appellaten in erster Linie auf Verwerfung der Appellation als unzulässig wegen Überschreitung der Einführungsfrist, hilfsweise auf Zurückweisung des Rechtsmittels als unbegründet gerichtet waren. Mit dieser Litiskontestation war der Prozess in das Judizialstadium eingetreten. Am 4. November 1750 verstarb der Appellat Dr. Krohn, dessen beide Kinder als Erben in den Prozess eintraten. Die letzte Prozesshandlung bestand in der Vorlage der Bevollmächtigung des Rechtsanwalts Dr. Hoffmann als Prokurator der nunmehrigen Appellaten am 17. April 1752. In den folgenden vier Jahren geschah in dem Verfahren aus den Akten nicht zu entnehmenden Gründen nichts. Erst im Mai 1756 trat der Senat des Reichskammergerichts in die Beratung über das Urteil ein. Der Beratung lag die Relation des Kammergerichtsassessors Summermann zugrunde.

 

Die umfangreiche Relation des Berichterstatters vom Mai 1756 stellt den Sachverhalt, die Prozessgeschichte und die dem Entscheidungsvorschlag zugrunde liegenden rechtlichen Erwägungen in 71 Paragraphen eingehend dar. Die alle in Betracht kommenden Gesichtspunkte erschöpfend berücksichtigenden Rechtsausführungen lassen eine souveräne Beherrschung der einschlägigen gemein- und partikularrechtlichen Normen sowie des zeitgenössischen und älteren rechtswissenschaftlichen Schrifttums erkennen und geben damit Zeugnis von der hohen juristischen Qualität der reichskammergerichtlichen Praxis. Zunächst wird die von den Appellaten erhobene Einrede der Fristversäumnis (Desertion) verworfen, da die Verzögerung der Eidesleistung der Appellaten hauptsächlich auf die schleppende Behandlung der Sache durch den Vorderrichter zurückzuführen gewesen sei (§§ 19-24). In der dann eröffneten Frage der Begründetheit der Appellation geht Summermann zuerst auf das anzuwendende Recht ein. Hierbei hält er, entsprechend der kammergerichtlichen Rechtsprechung, an der seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts (Conring) nicht mehr unumstrittenen Auffassung von der receptio in complexu des römischen Rechts in Deutschland und der sich daraus ergebenden fundata intentio der Berufung auf dieses Recht fest mit der Folge der Beweisbedürftigkeit abweichenden Partikularrechts (§ 33). Das römische Recht beschränke aber das Vorrecht der vollen Geburt in Nov. 118 auf die Geschwister(kinder) des Erblassers, lasse jedoch unter den übrigen Verwandten allein die Gradnähe zum Erblasser maßgeblich sein (§ 35). Scharfsinnig ist die Stellungnahme des Referenten zur naturrechtlichen Argumentation der Appellaten: „Voll“ sei zwar mehr als „halb“, aber auch „halb“ sei etwas und nicht nichts, woraus eine Aufteilung der Erbschaft zwischen Voll- und Halbbürtigen im Verhältnis 2:1 folgen würde, nicht aber ein völliger Ausschluss des Halbbürtigen (§§ 38, 40). Ein allgemeiner deutschrechtlicher Grundsatz des Vorrangs der Vollgeburt lässt sich nach Summermann nicht nachweisen. Seine diesbezüglichen Ausführungen verraten eine – für das Reichskammergericht wohl insgesamt nicht untypische – Skepsis gegenüber den Bemühungen in der zeitgenössischen Rechtswissenschaft, dem deutschen Recht eine dem römischen gleichberechtigte Stellung zu verschaffen. Die etwa aus Tacitus zu entnehmenden alten germanischen mores seien mit der Rezeption des römischen rechts längst obsolet geworden und könnten nicht durch die Wissenschaft, sondern nur durch die Gesetzgebung wieder in Geltung gesetzt werden ((§ 42), zudem unterschieden sich die Rechte der einzelnen germanischen Völker gerade auf erbrechtlichem Gebiet nicht unerheblich voneinander (§ 43). Bezeichnenderweise bemüht sich Summermann, den Beginn der Rezeption möglichst früh anzusetzen, wobei er sogar bis auf Kaiser Lothar III. zurückgeht (§ 44), obwohl ihm die Widerlegung der „Lotharingischen Legende“ durch Conring natürlich bekannt war. Schließlich wendet sich der Referent dem punctum saliens der Regelung durch das Lübische Recht zu. In subtiler Untersuchung gelangt er hier zu dem Ergebnis, die Artt. 18, 19 von Teil II, Titel 2 normierten lediglich den Vorrang der Seitenverwandten des Erblassers in absteigender Linie vor den Aszendenten, keineswegs liege ihnen der Gedanke eines Vorrangs der vollen vor der halben Geburt zugrunde; vom römischen Recht weiche das lübische nur insoweit ab, als Art. 18 den Vorrang der Deszendenten mit der Folge des Ausschlusses der Aszendenten auf die vollbürtigen Deszendenten beschränke, während die halbbürtigen neben den gradgleichen Aszendenten und damit immerhin quotal erbberechtigt seien (§ 51). Nach lübischem wie nach römischem Recht komme es mithin nicht auf die volle oder halbe Geburt an, sondern allein auf die Gradnähe der Prätendenten zum Erblasser. Vorliegend folge deshalb aus dem gleichen Verwandtschaftsgrad der Parteien, deren jeweils hälftige Erbberechtigung. Summermann votierte daher für eine auf Herausgabe der Hälfte der streitigen Erbschaft an die Appellanten gerichtete Verurteilung der Appellaten (§ 70). Dem folgte der Senat in seinem nach dreitägiger Beratung am 22. Mai 1756 verkündeten Endurteil: Die Appellaten wurden unter Verwerfung der Desertionseinrede und Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils zur Herausgabe der hälftigen streitbefangenen Erbschaft nebst gezogener Nutzungen an die Appellanten verurteilt, allerdings – ebenfalls gemäß dem Votum Summermann – unter Aufhebung der Gerichtskosten gegeneinander wegen des den Appellaten günstigen Ersturteils. Der lange Rechtsstreit war damit für die Klägerseite endlich erfolgreich.

 

Die Edition genügt vollumfänglich modernen Anforderungen. Vorangestellt ist ihr eine instruktive Einleitung (S. 1-17). Dort wird die Geschichte der Reichskammergerichts-Forschung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts referiert und die bisher noch kaum erfolgte Herausgabe von Prozessakten zu Recht als Forschungsdesiderat bezeichnet. Ferner nennt der Herausgeber die Gründe für die Wahl gerade der Akte Spilcker gegen Krohn, die er in dem hohen juristischen Niveau und der erheblichen rechtsgeschichtlichen Bedeutung des nahezu vollständig überlieferten Rechtsstreits erblickt. Es folgen die Beschreibung und Darstellung der Überlieferung der Akte. Bei der Erläuterung der Editionsgrundsätze wird die Verpflichtung zur Vorlagengenauigkeit betont und werden als Adressaten vor allem Rechts- und Allgemeinhistoriker und weniger Philologen bestimmt. Den Abschluss der Einleitung bilden Ausführungen zum Literaturverzeichnis und dem Register. Die instruktive Einleitung ist eine gute Grundlage für das Studium der Edition.

 

Die Edition selbst umfasst die Seiten 18-577. Der weitaus umfangreichste Teil hiervon (S. 18-518) entfällt auf die sich im Archiv der Hansestadt Lübeck befindende Reichskammergerichtsakte. Diese Akte beginnt mit dem Protokollbuch (S. 22-46), in dem die im Appellationsverfahren abgehaltenen Audienzen, die Prozesshandlungen der Prokuratoren und die Anordnungen des Gerichts festgehalten sind. Es folgen die in den Audienzen eingeführten („produzierten“) größtenteils quadrangulierten – der Terminus wird, soweit ersichtlich, nicht erläutert – und daher jeweils mit ´Q´ bezeichneten Schriftstücke, vornehmlich Schriftsätze mit Anlagen, Ladung, Inhibitions- und Kompulsorialbriefe usw. (Q 1-43) sowie vier unquadrangulierte Dokumente. Von besonderer Bedeutung ist die Abschrift der erstinstanzlichen Prozessakte (acta priora), die mit im Original 1334 Seiten den weitaus größten Umfang aufweist (Q 40a, S. 173-499). Die Reihenfolge der Schriftstücke in der Akte entspricht der Zeitfolge ihrer Vorlage beim Reichskammergericht. Im Anschluss an die Reichskammergerichtsakte folgt die Relation Summermanns (S. 519-571, im Original 104 Seiten). Diese sowie das Protokoll der Senatssitzung (S. 572-576) und das im Urteilsbuch des Reichskammergerichts verzeichnete Endurteil vom 22. Mai 1756 (S. 577) werden im Bundesarchiv Koblenz aufbewahrt. Das Werk schließt ab mit einem Registerteil (S. 579-615), bestehend aus Abkürzungsverzeichnis, Rechtsquellenregister, Literaturverzeichnis mit sämtlichen in der Akte zitierten Veröffentlichungen, Personen-, Orts- und Sachregister.

 

Die Herausgabe der Akte ist als ein durchweg gelungenes Werk zu bezeichnen. Schon die Durcharbeitung des riesigen Materials mit seinem spätbarocken, von zahllosen lateinischen Wendungen durchsetzten Deutsch verdient Bewunderung. Bei der Erstellung der Edition sind der Herausgeber und seine Mitarbeiter mit größtmöglicher Sorgfalt vorgegangen. Die erstrebte Vorlagengenauigkeit ist vollständig erreicht worden. Der Text folgt in Orthographie (einschließlich Groß- und Kleinschreibung), Interpunktion usw. weitestgehend dem Original. Die lateinischen Passagen werden im Text durch Kursivdruck gekennzeichnet. Die Erläuterungen des Herausgebers erfolgen in einem zweifachen Fußnotenapparat. Buchstabenfußnoten enthalten die textkritischen Anmerkungen, etwa die Auflösung heute nicht mehr gebräuchlicher Abkürzungen, Hinweise auf Schreibfehler u. a. m. Die 2673 (durchgezählten) teils sehr umfangreichen Zahlenfußnoten erläutern vor allem Begriffe und Institutionen, geben Hinweise zu dem komplizierten Verfahrensgang und enthalten präzise Informationen zu Leben und Werk der in der Akte erwähnten Juristen. Dabei nimmt der Herausgeber gelegentlich auch zu offenen Fragen der Reichskammergerichtsforschung Stellung (z. B. S. 26 m. Fn. 34, S. 51 m. Fn. 284). Solche an sich für eine Edition nicht erforderlichen Anmerkungen mehr kommentierenden Charakters sind im vorliegenden Fall nicht nur eine wertvolle, sondern sogar unentbehrliche Hilfe für den Leser, der andernfalls sehr bald den Überblick über den Gang dieses äußerst komplexen und in altertümlicher Sprache überlieferten Prozesses verlieren würde.

 

Alles in allem hat Oestmann mit der Edition eine Pionierleistung vollbracht, deren Ertrag für die weitere Forschung zur Rechtsprechung der Reichsgerichte und der Judikatur der deutschen Gerichte des 18. Jahrhunderts insgesamt sicher unentbehrlich sein wird. Es bleibt zu hoffen, dass dieses Werk den Anstoß für weitere Bearbeitungen wichtiger Prozessakten liefert, auf dass allmählich eine vertiefte Vorstellung von der reichskammergerichtlichen Entscheidungstätigkeit gewonnen wird.

 

Greifswald                                                                                                     Hans-Georg Knothe