Duss, Vanessa, Gericht, Gesetz und Grundsatz. Entstehung und Funktion von Prinzipien des Rechts in der Rechtsprechung des schweizerischen Bundesgerichts vor und nach Einführung der zivilrechtlichen Kodifikation (OR und ZGB) (= Zürcher Studien zur Rechtsgeschichte 60). Schulthess, Zürich 2009. 278 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Die Arbeit ist die von Marie Theres Fögen bis zu ihrem Tod im Januar 2008 betreute, im Frühjahr 2008 auf Grund von Gutachten Michele Luminatis und Wolfgang Ernsts von der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich angenommene Dissertation der als Assistentin Michele Luminatis tätigen Verfasserin. Sie geht davon aus, dass sich Gerichtsentscheide nicht selten an einer Art Leitgedanken oder Prinzip orientieren. Ein solches Prinzip verhilft dem Richter zur Auslegung der geltenden positiven Norm, wird aber oft auch zur einzigen Urteilsbegründung.

 

Gegenstand der Untersuchung sind die Prinzipien des materiellen Privatrechts, wie sie in den Entscheidungen des Schweizer Bundesgerichts in zwei beschränkten Zeiträumen von jeweils fünf Jahren vor dem Jahr und fünf Jahren nach dem Jahr des Inkrafttretens des Obligationenrechts (1883) und des Zivilgesetzbuchs (1912). Aus praktischen Überlegungen ergaben sich dabei die Zeiträume zwischen 1879 und 1889 mit den Bänden 5 bis 15 sowie zwischen 1907 und 1917 mit den Bänden 33 bis 43 der Entscheidungssammlung, wobei ausschließlich die publizierten und damit leicht zugänglichen Entscheide des Bundesgerichts erfasst wurden. Ziel war die Ermittlung der Sätze, denen das Bundesgericht durch nachhaltige Verwendung zu einer gewissen Allgemeingültigkeit verhalf, sei es, dass es einen Grundsatz selbst schuf, sei es, dass es eine gesetzgeberische Intention, eine wissenschaftliche Ansicht oder die Praxis kantonaler oder ausländischer Gerichte zum Prinzip erhob.

 

Gegliedert ist die Arbeit in drei Teile, wobei die Verfasserin mit Darlegungen über Prinzipien in der Theorie (Denkansätzen) beginnt. Danach stellt sie Prinzipien in den Materialien dar, wobei sie zwischen dem Obligationenrecht und dem übrigen Zivilrecht unterscheidet. Die gleiche Trennung nimmt sie im dritten Teil für die Prinzipien in der Rechtsprechung vor.

 

Als Prinzipien erscheinen dabei das Prinzip der Verkehrssicherheit, das Prinzip der Einheit des Rechts, das Prinzip der Einfachheit des Rechts, der Grundsatz der Gleichstellung der Geschlechter, der Grundsatz des Schutzes der schwächeren Vertragspartei, der Grundsatz des Schutzes von Treu und Glauben, das Nationalitätsprinzip, das Prinzip des weitest möglichen Schutzes des Publikums vor den Gefahren des Eisenbahnbaus und Eisenbahnbetriebs, das Prinzip der Haftungsvermutung der Transportgesellschaft, das Prinzip des weitest möglichen Schutzes der Fabrikangestellten vor den Gefahren der Fabrikarbeit, das Prinzip der Haftungsvermutung des Fabrikanten, der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit, das Prinzip der Gebrauchspriorität, das Prinzip der Vermutung der wahren Berechtigung des ersten Hinterlegers, das Prinzip der Redlichkeit, das Prinzip der Reziprozität, das Prinzip der Unterscheidbarkeit zweier Marken in den wesentlichen Merkmalen, das Prinzip der tiefen Zerrüttung und des Verschuldens, das Prinzip, dass nur der (überwiegend) unschuldige Ehegatte die Scheidung verlangen darf, das Prinzip des Kindswohls, das Prinzip der Schuldlosigkeit als Voraussetzung für Entschädigung und Genugtuung bei Scheidung, das Prinzip der Rückentrichtung des Frauengutes an die Ehefrau bei der güterrechtlichen Auseinandersetzung, dass Prinzip, dass die Weigerung der Wiederaufnahme des ehelichen Zusammenlebens als Verschulden gilt und das Prinzip der Offizialmaxime im Scheidungsverfahren. Aus allen diesen ganz unterschiedlichen Einzelprinzipien zieht die Verfasserin den Schluss auf Evolution durch Prinzipien mit dem Ziel der Gerechtigkeit. Möge die interessante, selbständige und gut lesbare Arbeit ihr Teil zur Erreichung dieses Zieles durch Bewusstmachung beitragen.

 

Innsbruck                                                        Gerhard Köbler