Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, hg. v. Müller, Sven Oliver/Torp, Cornelius. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2009. 461 S. graph. Darst. Besprochen von Karsten Ruppert.

 

In der deutschen Geschichtswissenschaft ist das Kaiserreich von 1871 lange eher ein Stiefkind gewesen. Das Interesse an dieser Epoche ist bezeichnenderweise erst im Zusammenhang mit der Kontinuitätssuche erwacht und erst nachdem sich die Geschichtswissenschaft sozusagen durch das Dritte Reich und die Weimarer Republik herangearbeitet hatte. In dieser Perspektive war das Paradigma für das Verständnis der Epoche das Interpretament des „Sonderwegs“. Diese vor allem von der Bielefelder Schule mit Alleinvertretungsanspruch propagierte Sicht war eine glatte Umkehrung des Selbstverständnisses der Zeitgenossen. Während diese davon überzeugt waren, dass die „deutsche Kultur“ der „westlichen Zivilisation“ überlegen sei, war nun die westliche Demokratie der Maßstab. Mit dieser Elle gemessen, war der vom Kaiserreich beschrittene Weg nur eine verhängnisvolle Abweichung vom westlichen Modell! In den sechziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde also die Epoche überwiegend aus der Sicht und Bewertung derer, die damals nicht das Geschehen bestimmten, gezeichnet und wurden vor allem die Brüche und Disfunktionalitäten offen gelegt. Dem haben sich seit den achtziger Jahren Thomas Nipperdey, der „Gerechtigkeit für die Großväter“ forderte, und Wolfgang Mommsen, der für eine Historisierung der Epoche plädierte, in großen Zusammenfassungen widersetzt. Daran konnte der zu besprechende Sammelband anknüpfen. Er markiert den Abschluss dieser Entwicklung und er leitet zugleich eine Wende in der Historiografie des Kaiserreichs hin zu mehr Ausgewogenheit ein.

 

In diesem Band befassen sich erfreulich viele junge Historiker und Historikerinnen zusammen mit etablierten Kennern des Inlandes und Auslandes mit zahlreichen Aspekten der Gesellschaft, der Kultur, der inneren Entwicklung wie der Außenpolitik des Reichs der Hohenzollern. Freilich wird die Wirtschaft etwas stiefmütterlich behandelt, dafür wird das Thema Krieg und Gewalt überbetont. Dabei ist die Gefahr nicht immer vermieden worden, in dieser Hinsicht erneut eine „schwarze Legende“ zu stricken, indem Kontinuitäten bis hin zum nationalsozialistischen Vernichtungskrieg konstruiert werden. Dafür wird man wieder etwas dadurch entschädigt, dass vielfältige Ansätze und Methoden zum Zuge kommen und eine beträchtliche Zahl von Autoren nicht verhehlt, wie stark sie der neueren Kulturgeschichte verpflichtet sind.

 

Nachdem mehrere Autoren das Unternehmen in die doch erstaunlich umfangreiche internationale Geschichtsschreibung zum Kaiserreich eingeordnet haben, wird gegen das Bild von der Herrschaft rückwärtsgewandter sinistrer Mächte Front gemacht. Die Manipulation der Massen von oben sei weder ein nur deutsches Phänomen gewesen noch sei es gar eines nur dieser Epoche. Den obrigkeitlichen Strukturen müssen die vielfältigen Formen der Selbstorganisation an der Basis gegenübergestellt werden. Sie habe es, sogar gesetzlich abgesichert und staatlich gefördert, in der Arbeitswelt, der Wirtschaft und im Alltag in einem vielfältigen Vereinswesen gegeben. Der These von der „Feudalisierung“ des Reiches wird mit Berufung auf international vergleichende Studien entgegengehalten, dass das deutsche Bürgertum nicht schwächer als sonst in Europa, sondern nur staatszentrierter gewesen sei. Auch die Aneignung adliger Attribute findet sich woanders und die Symbiose von Bürgertum und Adel ist im 19. Jahrhundert gemeineuropäisch. Die Artikel zu Politik und Gesellschaft behandeln ihren Gegenstand vor dem Hintergrund gegensätzlicher Sichtweisen. Die eine beschreibt ein autoritäres, funktionsgestörtes Kaiserreich, lahmgelegt durch unversöhnliche Konflikte, sich bewegend am Rande des Zusammenbruchs; die andere zeigt ein liberales Reich von politischem Pluralismus und mit dem Potenzial für demokratische Weiterentwicklung. Die hier vertretene jüngere Forschung tendiert zum Bild einer pluralistischen bürgerlichen Gesellschaft, in welcher der „Staatsbürger“ den „Untertan“ ersetzt hat. Sie lehnt daher auch die Begriffe der älteren Forschung wie „Obrigkeitsstaat“, „Junker-Staat“ u. ä. ab.

 

Die Dominanz der Außenpolitik durch die Innenpolitik in dem Sinne, dass die inneren Spannungen aus Angst vor dem Umsturz nach außen abgeleitet worden seien, wird nachdrücklich relativiert. Der deutschen Außenpolitik wird deutlich mehr Autonomie zugebilligt; sie sei viel mehr durch das Staatensystem und die dort agierenden Mitspieler Deutschlands und durch dessen europäische Mittellage bestimmt worden. Aufgebrochen wird auch das Bild von der imperialistischen Rivalität der europäischen Großmächte. Denn es waren diese, die im Jahrzehnt vor der Jahrhundertwende die erste Epoche der Globalisierung trugen durch den grenzüberschreitenden Transfer von Ideen, Waren und Kapital; eine Epoche, die auch schon die Massenmigration, vor allem in die USA, kannte. Solch enge Verflechtungen erzwangen neben der Machtrivalität die engere Kooperation. Es entstand das Internationale Handels- und Privatrecht, Weltausstellungen präsentierten die globale Warenwelt und technische Innovationen, supranationale Organisationen wie der Weltpostverein und wissenschaftliche Gesellschaften wurden gegründet und die internationalen Kongresse erlebten eine erste Blüte.

 

Vor dem Hintergrund eines rapide und dauerhaft wachsenden Welthandels der Waren, des Kapitals und auch schon der Arbeit wankt eine zentrale These der älteren Forschung, dass nämlich Großlandwirtschaft und Schwerindustrie einen „klassenegoistischen und konsumfeindlichen“ Protektionismus initiiert und mit „dezidiert antisozialistischer Stoßrichtung“ betrieben hätten. Ohne die Interessenlagen dieser Branchen zu übersehen und auch die politische Rücksicht von Reichsleitung und preußischer Regierung auf die Landwirtschaft zu unterschlagen, ist offensichtlich, dass sich Deutschland einen extremen Protektionismus als eine Volkswirtschaft, die bereits damals stark vom Export abhing, nicht leisten konnte. Dafür sorgten schon die Branchen, die diesen trugen: Maschinenbau, Chemieindustrie und Elektroindustrie - und so waren die deutschen Zölle im internationalen Vergleich auch eher gemäßigt.

 

Wie bei der Außenpolitik so hat auch die Einbeziehung transnationaler und globaler Sichtweisen in die Nationalgeschichte zu einer Überprüfung der Thesen zur Kolonialpolitik geführt. Zusätzlich angestoßen durch die aus den USA rezipierten „colonial/postcolonial studies“ kommen jetzt auch die Rückwirkungen der kolonialen Erwerbungen auf die Mutterländer in den Blick. Sie lösten dort eine massenhafte Faszination am Fremden aus, die weit über den jeweiligen Kolonialbesitz hinaus ging, und zu einer veränderten Selbstwahrnehmung der Kolonialmächte führte. Im Vergleich schält sich als das Spezifikum der Kolonialpolitik des Kaiserreichs heraus, dass es keine imperiale Herrschaft errichtete, sondern seine kolonialen Unternehmungen „joint ventures“ von Staat und Privaten waren. Das Überzogene und Hektische, das diese Politik dennoch hatte, kam hinein, weil das Kaiserreich auf dem imperialen Gebiet noch Anschluss an die Großmächte Frankreich und Großbritannien suchte, als das schon nicht mehr aussichtsreich war.

 

Dieser Sammelband, dessen Qualität nicht zuletzt darauf beruht, dass in ihm zahlreiche Forscher die Ergebnisse langjähriger Bemühungen zusammenfassen, markiert also fraglos einen neuen Abschnitt  in der Erforschung des Deutschen Kaiserreichs. An ihm fasziniert auch, in welchem Umfang zu erkennen ist, wie neuere Einsichten überhaupt zustande kommen. Da ist zunächst die Historisierung des Gegenstands, indem das Kaiserreich nicht mehr vor allem als Vorgeschichte des Nationalsozialismus verstanden wird. Was an politischer Aktualität verloren geht, wird durch Erkenntnisgewinne kompensiert. Dann ist zu sehen, wie das Paradigma der Modernisierung, das lange die Forschung nicht nur zum Kaiserreich beherrscht hat, an Attraktion verliert. Der einst fraglos positiven Bewertung der säkularen Industrialisierung mit ihrem Versprechen von Wohlstand, Individualismus und Emanzipation werden jetzt der Verlust von Werten und Orientierung, die zunehmende Gewalt wie Machbarkeitswahn und Umweltzerstörung entgegengesetzt. Und schließlich hat auch die methodische Neuorientierung, die sich seit etwa 20 Jahren vollzieht, zum Fortschritt beigetragen. Die Überwindung der nationalstaatlichen Betrachtung durch den internationalen diachronen Vergleich und ein stärkere Fokussierung auf die kulturellen Determinanten menschlichen Handelns und Wahrnehmens erhalten den ihnen gebührenden Rang. So wurde das grau-schwarze Bild vom preußisch-deutschen Obrigkeitsstaat abgelöst durch das bunte von einem bei aller historischen Distanz modernen und offenen wilhelminischen Kaiserreich. Anregung und Herausforderung zugleich für weitere Forschungen.

 

Eichstätt                                                                                                         Karsten Ruppert