Daniels, Justus von, Religiöses Recht als Referenz. Jüdisches Recht im rechtswissenschaftlichen Vergleich. Mohr (Siebeck), Tübingen 2009. XIII, 239 S. Besprochen von Reinhard Schartl.

 

Das nicht mit dem Recht des modernen Staates Israel gleichbedeutende jüdische Recht ist eines der noch geltenden religiösen Rechte. Es unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von den säkularen Rechten der westlichen Staaten in Europa und Amerika. Von Daniels untersucht mit seiner an der Humboldt-Universität zu Berlin eingereichten und von Bernhard Schlink betreuten rechtsvergleichenden Dissertation am Beispiel des US-amerikanischen Rechts, wie sich das jüdische Recht mit westlichen Rechten vergleichen lässt. Die einschließlich eines Fazits in fünf Kapitel gegliederte Untersuchung beginnt mit einer Einführung, in der der Autor als Ziel der Arbeit formuliert, eine Diskussion über das jüdische Recht als Rechtssystem und Vergleichsmodell in die deutsche Rechtswissenschaft einzuführen. Eine Auseinandersetzung mit diesem Recht hat bislang vor allem in den Vereinigten Staaten stattgefunden. Von Daniels stellt die Arbeitshypothese auf, dass das jüdische Recht vor allem wegen seiner alternativen Ausprägung im Rechtsvergleich thematisiert werde. Im zweiten Kapitel stellt die Arbeit die Grundlagen des jüdischen Rechts dar. Zum einen zeigt sie in aller Kürze die Entwicklung dieses Rechts anhand seiner Quellen auf: Sie setzte mit der Thora (den fünf Büchern Mose) ein, die zusammen mit mündlich überliefertem Recht als Halacha bezeichnet wird und aus der sich 613 Verhaltensregeln ergeben. Nach der zweiten Zerstörung des Tempels im Jahre 70 n. Chr. wurden die Juden in die Diaspora zerstreut, weshalb Rabbi Judah ha-Nasi um 200 die rechtlich relevanten Teile der mündlichen Überlieferung in der Mischna zusammenfasste. Über die Mischna entstanden Diskussionen unterschiedlicher rabbinischer Schulen, die Gemara. Mischna, Gemara sowie weitere Bibelauslegungen wurden bis etwa 500 in den Talmud aufgenommen, dessen babylonische Version in erster Linie maßgebend ist. Im 12. Jahrhundert verfasste Maimonides die Mischna Thora, die alle im Talmud vorkommenden Rechtsvorschriften systematisch darstellt. Es folgten weitere Kommentierungen und Kodifizierungen. Rechtsverbindlich sind ferner die Responsen rabbinischer Autoritäten und die von Rabbinern erlassenen Gesetze, wobei die Gesetzgebung unter dem grundsätzlichen Verbot steht, dem göttlichen Recht nichts Neues hinzuzufügen. Der Autor stellt sodann die besonderen Strukturmerkmale des jüdischen Rechts dar. Es ist göttlichen Ursprungs und für die jüdische Religion konstituierender Bestandteil. Das gilt nicht nur hinsichtlich der Offenbarung am Berg Sinai, sondern ebenso für das mündlich überlieferte Recht und dessen Bearbeitungen. Das Recht regelt das Verhältnis des jüdischen Gläubigen zu Gott. Die Einhaltung der Rechtsvorschriften schuldet der Mensch Gott, nicht seinen Glaubens- und Rechtsgenossen. Eine weitere Besonderheit besteht darin, dass nach der Tempelzerstörung ein jüdischer Staat nicht mehr existierte, so dass das jüdische Recht durch keine staatliche Autorität durchgesetzt werden konnte. Demzufolge fehlte es auch an einer obersten Gerichtsinstanz, die Rechtsfragen hätte verbindlich entscheiden können. Im folgenden Hauptabschnitt behandelt die Arbeit vier Themen, bei denen die Stellungnahmen des jüdischen und des US-amerikanischen Rechts verglichen werden. Sie beginnt mit biomedizinischen Fragen wie dem Austragen einer durch künstliche Befruchtung oder in-vitro-Fertilisation erzeugten Schwangerschaft durch eine Leihmutter. Hier ist die rechtliche Beziehung des Kindes zur Mutter zu klären. Die Arbeit referiert drei Auffassungen, von denen die erste die Tragemutter als rechtmäßige Mutter ansieht. Sie leitet dies aus einer Bibelstelle her, die das Einpflanzen eines jüngeren Astes in einen älteren Baum betrifft. Wenn der eingepflanzte Ast Früchte trägt, stellt sich die Frage, ob die Früchte geerntet werden dürfen, obwohl nach biblischem Recht der Baum dazu älter als drei Jahre sein muss. Dies hängt davon ab, ob die Früchte dem noch nicht drei Jahre alten eingepflanzten Ast oder dem älteren Baum zuzurechnen sind. Der Talmud argumentiert, der eingepflanzte Ast nehme die Identität des alten Baumes an. Somit werde der eingepflanzte Teil vom Körper assimiliert. Die Anwendung dieser Regel auf die Mutterschaft wird aber überwiegend abgelehnt, da dem Fötus im Gegensatz zu dem Ast und dem Baum eine eigene Identität zukomme. Ein anderes Argument geht von der talmudischen Auslegung aus, dass ein Fötus bis zum vierzigsten Tag als „flüssig und unbestimmt“ anzusehen sei, also bis dahin noch keine Identität besitze, so dass kein Mutter-Kind-Verhältnis zur genetischen Mutter entstanden sein könne. Ebenso wird eine talmudische Quelle herangezogen, wonach ein Kind, dessen Mutter während der Schwangerschaft zum Judentum konvertiert, als Jude zur Welt kommt, woraus auf die Geburt als dem auch für das Mutter-Kind-Verhältnis rechtlich maßgeblichen Zeitpunkt geschlossen wird. Eine weitere Mindermeinung erkennt die genetische Mutter an. Vertreten wird aber auch die Ansicht, beide Mütter könnten die Mutterschaft beanspruchen, wobei als Argument eine talmudische Quelle dient, welche die Transplantation eines Pflanzenteils auf eine andere Pflanze behandelt. Diesem Argument wird allerdings entgegengehalten, dass der Talmud Grenzfälle in der Natur häufig unentschieden lasse, während er in Fragen, welche die Menschen betreffe, immer eine Lösung erzwinge. Die Erzeugung von Menschen durch Klonen wird im jüdischen Recht grundsätzlich für zulässig erachtet, was vor allem aus dem biblischen Gebot zur Vermehrung und dem Fehlen eines Verbots in der Halacha ergebe. Der Verfasser konstatiert, dass das amerikanische Recht zu bioethischen Fragen wegen der Unterschiedlichkeit des jüdischen und des US-amerikanischen Rechtssystems die Argumentationen der jüdischen Rechtsdiskussion nur sehr zurückhaltend verwerte. Als zweites Thema greift von Daniels die Todsstrafe auf, über deren Legitimität in den Vereinigten Staaten eine anhaltende Auseinandersetzung stattfindet. Zur ihrer Rechtfertigung wird von amerikanischen Bundesgerichten, aber auch von der Rechtswissenschaft auf die biblische Regelung Bezug genommen, welche die Todesstrafe für 36 Delikte erwähnt. Dabei wird – wie der Verfasser herausstellt – zur Begründung angeführt, das jüdische Recht habe aufgrund seines religiösen Kerns eine nachvollziehbare Begründungsstruktur entwickeln können. Die Motive und der Regelungssinn der Todesstrafe könnten, anders als in einer westlichen Ordnung, herausgearbeitet und erkannt werden. Unter den in der Bibel erwähnten Taten befinden sich außer dem Mord Verletzungen religiöser Gebote wie Gotteslästerung und Entweihung des Sabbats, Ehebruch, aber auch Widerstand gegen die Eltern. Im Mittelpunkt der Diskussion steht der Mord, der aber nur als direkte Tat, nicht als Teilnahme an der Tat eines anderen mit dem Tod bedroht ist. Ferner haben sich im Lauf der Jahrhunderte durch die talmudischen Debatten die prozessualen Erfordernisse verschärft. So wird das Geständnis des Angeklagten wegen der Gefahr einer nicht nachvollziehbaren Erpressung nicht verwertet, zur Überführung des Angeklagten bedarf es schon nach biblischen Belegstellen zweier unabhängiger Augenzeugen. Eine entgegen der Ansicht des Autors mehr materiell-rechtliche als prozessuale Einschränkung besteht darin, dass der Täter vor der Tat gewarnt worden sein muss, dass er für die Tat büßen werde. Damit wird klar, weshalb die Bezugnahmen der amerikanischen Rechtsprechung und Literatur auf das biblische Recht kritisiert werden: das jüdische Recht regelt die Todesstrafe differenzierter, als dies seine Inanspruchnahme zur Rechtfertigung der Strafe im säkularen amerikanischen Recht erkennt. Von Daniels nennt als Begründungen für die Todesstrafe im jüdischen Recht Vergeltung und Abschreckung, wobei der Vergeltungsgedanke einer komplexeren Begründung bedürfe. Soweit es sich dabei um Verletzungen religiöser Pflichten handele, richteten sie sich gegen die göttliche Ordnung für das auserwählte jüdische Volk und damit gegen Gott selbst. Die Todesstrafe sei mithin eine Konsequenz für einen Angriff auf das höchste Gut der Gesellschaft. Dadurch könnten die Verletzung des Sabbatgebotes, Gotteslästerung, Ehebruch oder Illoyalität gegenüber den Eltern als fundamentale Verletzungen der göttlichen Autorität und Ordnung ebenso einbezogen werden wie Mord als Verletzung der Ebenbildlichkeit Gottes, die sich im Menschen ausdrückt. Sühne und Reue als Strafzwecke sollen die Reinigung und die Erlösung des Landes von einer Tat bewirken, was aber für das amerikanische Recht als wenig praktikabel angesehen wird. Die Arbeit zeigt schließlich unter dem Gesichtpunkt einer dynamischen Interpretation auf, wie in Thora, Talmud und einer Bestrebung zur Humanisierung der Strafen Gründe für die Zurückdrängung der Todesstrafe, etwa im fünften Gebot, gesucht werden. Der amerikanischen Regelung der Todesstrafe werde vorgehalten, die große Bandbreite bei der Interpretation, etwa der Begriffe „grausam“ und „ungewöhnlich“ im 8. Amendment der amerikanischen Verfassung, nicht auszuschöpfen und inhaltlich weniger zu differenzieren als das jüdische Recht. Der dritte Abschnitt behandelt unter der Überschrift „Kollision von Rechtsordnungen“ die Grundsätze, unter denen sich das jüdische Recht seit der Auswanderung der Juden und ihrer zerstreuten Ansiedlung in Europa mit den fremden Herrschaftssystemen arrangierte. Der Autor weist zutreffend darauf hin, dass die Kollision zwischen der jüdischen und der jeweiligen fremdherrschaftlichen Rechtsordnung mit den Problemstellungen des internationalen Privatrechts oder dem Aufeinandertreffen des nationalen Verfassungsrechts mit dem Europarecht verglichen werden könne. Der Talmud stellt zur Konkurrenz zwischen jüdischem und fremdherrschaftlichem Recht fest, dass „das Recht des Landes das Recht ist“, lässt also im Fall einer Kollision zu, dass das jüdische Recht grundsätzlich hinter dem fremden Recht zurücktritt. Die in der Arbeit näher vorgestellten Begründungen für dieses Prinzip reichen von einer Gesetzgebungsbefugnis der Rabbiner, einer aus der faktischen Situation notwendigen vertragsähnlichen Kompromissbildung, einer faktischen Zustimmung der jüdischen Bevölkerung, um eine Vertreibung aus dem Land zu vermeiden, der Anerkennung des fremden Königs analog den Regeln eines jüdischen Königs bis zu einem der noachidischen Gesetze, das die nichtjüdischen Gemeinden auffordert, eine Ordnung zu schaffen, die die übrigen noachidischen Verbote beachtet. Aus der Rechtfertigung des Kollisionsprinzips ergibt sich auch, in welchem Umfang materielle Rechtsbereiche an das fremde Recht abgetreten werden können. Unproblematisch ist dies für das Vermögensrecht, während das rituelle Recht für nicht disponibel gehalten wird. Dem fremden Recht wird somit grundsätzlich das Privatrecht überlassen, wobei dies für das Eherecht wegen seiner religiösen Dimension problematisiert wird. Auch die Steuergesetzgebung und das Strafrecht werden als abtretbar gesehen. Der vierte Abschnitt untersucht die Methoden der Interpretation. Die Auslegung hat im jüdischen Recht eine herausgehobene Stellung, weil der Ausgangstext göttlichen Ursprungs und damit als vollständig und unveränderbar hinzunehmen ist. Um die Aufgabe des Menschen und den Einfluss Gottes zu klären, wird im jüdischen Recht zunächst nach einer Legitimation zur Auslegung gesucht, die letztlich im Deuteronomium 17, 8-11 gefunden wird. Über die Auslegung der Rechtsvorschriften der Thora existiert im jüdischen Recht ein aus der Mischna hergeleiteter Kanon mit drei Grundregeln: Kein Wort der Thora ist überflüssig, das Gesetz ist vollendet, die Thora ist eine Einheit. Im Vordergrund stehen die wörtliche und die systematische Auslegung, während eine historische Auslegung des göttlichen Textes nicht in Betracht gezogen wird. Neu auftretende Sachverhalte werden mit Analogien bewältigt, für die eingehende Regeln bestehen. Für die Interpretation des Talmuds und der späteren Kommentare gilt daneben eine freiere Methodik, die derjenigen des Case Law ähnelt. Hinzukommt unter dem Gesichtspunkt der ethischen Anforderungen des religiösen Rechts eine Berücksichtigung der Billigkeit (aequitas, equity), ohne dass dieser Begriff des römischen oder des englischen Rechts verwendet wird. Von Daniels weist in diesem Zusammenhang auf Bestrebungen hin, Methoden des jüdischen Rechts auch auf die Interpretation im amerikanischen Recht anzuwenden, da sich beide durch einen auszulegenden Basistext (Thora beziehungsweise amerikanische Verfassung) ähnelten. Im Folgenden erläutert der Autor nochmals die Entstehung und die Legitimität der pluralistischen Struktur des jüdischen Rechts, insbesondere die Auffassungen der mittelalterlichen Gelehrten. Nach Ibn Daud ist der Pluralismus Ausdruck der Unfähigkeit des Menschen, das göttliche Recht unverfälscht weiterzugeben. Demgegenüber hob Maimonides hervor, dass das göttliche Recht selbst die deduktive Herleitung weiterer Normen zulasse, die im Idealfall der göttlichen Wahrheit entsprächen. Die Autorität der Auslegung sei nicht von früheren Auslegungen, sondern von der Kraft des Arguments beziehungsweise von den von der Gemeinschaft akzeptierten Texten abhängig. Nach einer auf Nachmanides zurückgehenden Theorie stellt die Interpretation erst die Generierung des Rechts dar. Sie findet die Legitimität unterschiedlicher Meinungen in einem talmudischen Narrativ, wonach schon Moses jeweils 49 Positionen zur Verteidigung oder Ablehnung einer Rechtsmeinung gehabt habe. Diese drei Ansätze unterscheiden sich, wie der Verfasser resümiert, nur darin, ob die Interpretation Gewinn oder Verlust sei. Als Leitbild der Interpretation spiele die Kohärenz eine wichtige Rolle. Rechtsmethodisch sieht der Autor Ähnlichkeiten des jüdischen Rechts wegen der Präjudiziensystematik vor allem mit dem anglo-amerikanischen Recht. Das vierte Kapitel über Ziele und Ertrag des Vergleichs hebt eine Tendenz hervor, das jüdische Recht nicht als gleichartiges Rechtssystem für einen Vergleich zu nutzen, sondern abhängig von der jeweiligen Fragestellung in seinen besonderen Merkmalen – der ethischen Ordnung, der Religiosität, der genuinen Autoritätsstrukturen und der fehlenden Staatlichkeit – anderen Rechtsordnungen gegenüber zu stellen. Die Arbeit stellt drei Modelle vor, jüdisches Recht für einen Vergleich nutzbar zu machen und in das Recht des Staates Israel aufzunehmen. Das in erster Linie von Menachem Elon vertretene Mischpat Ivri-Projekt wollte dazu das Vermögensrecht als den dem römischen Recht entsprechenden Teil der Halacha herauslösen, was jedoch – abgesehen von einigen Gerichtsentscheidungen und vom Eherecht – in der  israelischen Gesetzgebung ohne Gefolgschaft geblieben ist und wegen der als künstlich empfundenen Trennung in religiöses und nichtreligiöses Recht kritisiert wurde. Robert Cover entwickelte die Theorie, nach der sich Recht durch Interpretation als Erzeugung und Gewaltausübung als Zerstörung von Recht entwickelt. Dabei bewirke der Staat durch die von ihm beanspruchte Kompetenz zur Letztentscheidung über Rechtsfragen die gewaltsame Zurückdrängung anderer Versionen von Recht. Im jüdischen Recht als pluralistischem, nicht-hierarchischem System sieht er den Prototyp eines Rechtssystems, bei dem die Erzeugung der Wertegemeinschaft durch die Ausbildung des Rechts erfolge. Ihm wurde entgegengehalten, dass er das jüdische Recht im Hinblick auf die Problematik der Rechtsdurchsetzung zu idealistisch einschätze. Die vom Verfasser bevorzugte vergleichende Rechtstheorie knüpft an die vorgenannten Modelle an, verlangt aber eine differenziertere Analyse der Merkmale des jüdischen Rechts, um es mit dem säkularen Recht in Verbindung zu setzen. Zudem soll anhand rechtswissenschaftlicher Kategorien ein eigenes rechtstheoretisches Verständnis des jüdischen Rechts ermöglicht werden. Insgesamt behandelt die Untersuchung die in der amerikanischen Rechtsliteratur bislang nur vereinzelt aufgegriffene Thematik sehr ausführlich und einleuchtend, wobei die streckenweise stark abstrahierenden Ausführungen dem Leser erhebliche Konzentration abverlangen. Inwieweit sie in der deutschen Rechtswissenschaft oder Rechtspraxis nachhaltig Rückgriffe auf das jüdische Recht bewirken wird, erscheint allerdings ungewiss.

 

Bad Nauheim                                                                                     Reinhard Schartl