Buchholz, Erich, Strafrecht im Osten - ein Abriss über die Geschichte des Strafrechts in der DDR (= Edition Zeitgeschichte 37). Homilius, Berlin 2008. 661 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Der in Berlin am 8. Februar 1927 geborene Verfasser erlebte, wie seine unter dem Titel „Dem Unrecht wehren“ 2006 veröffentlichte Erzählung (Biographie) berichtet, den Hitlerfaschismus als Schüler und Gymnasiast (am Luisengymnasium), um die letzten Tage des zweiten Weltkriegs als Eisenbahnpionier zu überstehen, wodurch sein Leben als konsequent friedliebender Mensch geprägt wurde. Von 1948 bis 1952 absolvierte er das juristische Studium an der Humboldt-Universität in Berlin, wurde nach dem Abschluss 1952 wissenschaftlicher Assistent, wurde 1956 über Strafzumessung promoviert, 1957 Dozent, 1963 über Diebstahl habilitiert, 1965 Professor mit Lehrauftrag, später Ordinarius, 1966 Dekan der juristischen Fakultät und 1976 Direktor der Sektion Rechtswissenschaft. Dass er seinen Traumberuf Rechtsanwalt erst nach 1990 ergreifen konnte, lag nicht an seiner Entscheidung, maßgeblich am Aufbau der Deutschen Demokratischen Republik beteiligt zu sein, sondern daran, dass er nach dem Ende der Deutschen Demokratischen Republik 1991 als Professor entlassen wurde.

 

Seit 1952 veröffentlichte er zahlreiche Beiträge in der Neuen Justiz und in Staat und Recht. Zudem wirkte er verantwortlich bei Lehrbüchern mit. Zu seinem 80. Geburtstag wurde ihm eine von Horst Kellner herausgegebene Festschrift gewidmet und allein seit dieser Zeit liegen zehn umfangreiche Veröffentlichungen aus seiner Feder vor, zu denen neben dem vorliegenden Werk etwa 1949, Totalliquidierung in zwei Akten, Unter Feuer, Überwachungsstaat, Kriminalität - und kein Ende, BRD-Grundgesetz vs. DDR-Verfassung, und was war es nun wirklich? und Rechtsbetrachtungen von links zählen dürften.

 

Die Anregung, das vorliegende Buch zu schreiben, kam nach dem kurzen Vorwort des Verfassers von Kollegen. Da die Rechtsgeschichte eines Landes in der Regel von Juristen des betreffenden Landes geschrieben wird, die Deutsche Demokratische Republik aber nicht mehr besteht und bundesdeutsche Juristen über ein für sie fremdes Strafrecht schreiben müssten - unvermeidbar aus der Sicht der Bundesrepublik, deren prinzipielle Gegnerschaft zur Deutschen Demokratischen Republik über mehr als vier Jahrzehnte ausgewiesen sei - erscheine es geboten, dass jemand, der die Entwicklung des Strafrechts der Deutschen Demokratischen Republik miterlebte und zum Teil auch mitgestaltete, niederschreibe, was er dazu wisse und dazu zu sagen habe. Dabei sei es, weil die Überwindung des nazistischen Strafrechts nach der Befreiung vom Hitlerfaschismus und die Abrechnung mit diesem und der Nazijustiz in Ostdeutschland einen maßgeblichen Einfluss auf das Strafrecht der Deutschen Demokratischen Republik und ihre Justiz hatten, unerlässlich, dem Umbruch nach 1945 und der Überwindung des nazistischen Strafrechts und der diesem zugrunde liegenden Lehren besondere Aufmerksamkeit zu schenken.

 

Das insgesamt in sechs Kapitel gegliederte Werk beginnt deshalb mit der Rechtslage auf dem Gebiete des Strafrechts am 8. Mai 1945 und den auf Grund der Zerschlagung des Hitlerfaschismus gebotenen Erfordernissen auf dem Gebiete des Strafrechts und in der Strafjustiz (Aufhebung der Nazigesetze, Entfernung der Nazis aus der deutschen Justiz, Gesetze der Alliierten zur Verfolgung und Bestrafung von NS- und Kriegsverbrechen, strafrechtlicher Schutz der Maßnahmen der Besatzung und Gewährleistung der Strafrechtspflege zum Schutz der Bürger unter außerordentlichen Bedingungen). In diesem Zusammenhang hält der Verfasser etwa fest, dass die von den Alliierten geforderte und in ihren Gesetzen vorgesehene Entfernung der Nazijuristen aus der deutschen Justiz und ihre Ersetzung durch demokratische Kräfte Bestandteil der Befreiung des deutschen Volkes vom Hitlerfaschismus und eine unerlässliche Voraussetzung einer friedliebenden demokratischen Entwicklung des deutschen Volkes war. Die Tatsache, dass etwa 90 Prozent der früheren Richter (die ganz überwiegend Hitler gedient hatten) nach 1945 im Osten Deutschlands aus der Justiz ausschieden und durch neue Richter, darunter zunehmend Volksrichter, ersetzt wurden, während in Westdeutschland etwa 90 Prozent der früheren Richter und Staatsanwälte im Amt blieben oder wieder in ein solches Amt berufen wurden, bewirkte einen Bruch in der Tradition und auch im Selbstverständnis der früheren Richterschaft.

 

Das zweite Kapitel behandelt die Rechtslage auf dem Gebiete des Strafrechts nach der Währungsreform und nach der (vom Westen zu verantwortenden) Bildung der beiden deutschen Staaten (separate Währungsreform, unterschiedliche Wirtschaftsentwicklung und unterschiedliches Wirtschaftsstrafrecht, besonderer Status Berlins, besondere Rechtslage und Spaltung der Verwaltung und der Justiz in Berlin, Zerreißung der Rechtseinheit Deutschlands, Nutzung von Strafgesetzen zur Abwehr krimineller Schädigungen der DDR, besonders ihrer Wirtschaft, von außen, unterschiedliche Strafverfolgung der NS- und Kriegsverbrechen in West- und Ostdeutschland). Das dritte Kapitel betrachtet die Strafrechtsentwicklung in der DDR seit 1952, das vierte Kapitel das Strafgesetzbuch, das fünfte Kapitel die Veränderungen des Strafrechts zwischen 1969 und 1979. Das sechste Kapitel führt bis zur Wende des Jahres 1989.

 

Am Ende zieht der Verfasser ein subjektives Fazit aus seinen umfänglichen, auf zahlreiche Details eingehenden Überlegungen. Danach konnte im Osten Deutschlands nach dem 8. Mai 1945 , als alles in Trümmern lag und die Deutschen bestrebt waren, nach ihrer Befreiung einen Neuanfang zu finden, im Osten Deutschlands der Neuanfang gleich zweifach beginnen. Neben dem Bruch mit dem Naziregime sollte auch das bürgerliche Rechtssystem über Bord geworfen werden, was für Rechtswissenschaftler eine ungeheuere Chance bot. Sie wurde nicht in der Form der Übernahme des sowjetischen Systems genutzt, sondern es wurde nach Ansicht des Verfassers in Gesetzestext und Rechtsprechung ein neues, modernes, einfaches und bürgernahes Recht geschaffen, zu dem freilich 1990 sich die Mehrheit der Bürger der (untergehenden) Deutschen Demokratischen Republik nicht mehr bekennen mochte.

 

Insgesamt ist das Werk des Verfassers als Diskussionsbeitrag eines wichtigen Insiders durchaus zu begrüßen. In der pluralistischen Demokratie soll jeder seine Sicht der Dinge frei äußern und mit seinen besonderen Kenntnissen und Fähigkeiten die Mitmenschen belehren und bereichern dürfen. Ob das durch ein Werk, das in seinen Wort- und Begriffserläuterungen ein selbst Google unbekanntes anim socil als Tat als fremde Tat gewollt, ein es ipsio als selbstverständlich, Kodici als Mehrzahl von Kodex oder occupatio bellis als Besetzung fremden Staatsgebietes im Zuge eines Krieges erläutert, trotz aller unbestreitbaren Vorzüge in einem von seinem Verfasser wohl erhofften Ausmaß gelingt, wird man abwarten müssen.

 

Innsbruck                                                        Gerhard Köbler