Boyer, John W., Karl Lueger (1844-1910). Christlichsoziale Politik als Beruf. aus dem Englischen v. Binder, Otmar (= Studien zu Politik und Verwaltung 93). Böhlau, Wien 2010 595 S., 18 Abb. Besprochen von Martin Moll.
Im März 2010 jährte sich zum hundertsten Mal der
Todestag Karl Luegers. Als Mitbegründer der Christlichsozialen Partei und als
langjähriger Bürgermeister der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien hat Lueger
die innenpolitische Landschaft der späten Habsburger-Monarchie, über den Rahmen
Wiens hinaus, nachhaltig geprägt. Ungeachtet seiner großen und unbestreitbaren
Verdienste um die Modernisierung Wiens durch den Ausbau einer zeitgemäßen
Infrastruktur ist Lueger heute in der breiten Öffentlichkeit ziemlich
vergessen. Zudem ist die von der Österreichischen Volkspartei, der Nachfolgerin
der Christlichsozialen, lange betonte Vorbildrolle Luegers durch dessen –
freilich immer schon bekannten – Antisemitismus zunehmend problematisch
geworden. So sind denn die Erinnerungen an Luegers 100. Todestag nicht frei von
Dissonanzen: Die Wiener Universität für Angewandte Kunst veranstaltete etwa
Anfang 2010 einen Ideenwettbewerb zur Umgestaltung des Lueger-Denkmals in ein
Mahnmal gegen Rassismus und Antisemitismus.
Pünktlich zum Jubiläumsjahr liegt die Übersetzung
eines umfangreichen Werkes vor, das zwar auf zwei älteren Arbeiten John W.
Boyers beruht, aber auch viel neues Material einarbeitet. Boyer, ein
ausgewiesener Experte für die letzten Jahrzehnte Österreich-Ungarns, legt
entgegen dem Titel keine klassische Biographie Luegers vor. Eine solche kann
das Buch nicht sein, denn die Abschnitte, welche das Wien vor Luegers Eintritt
in die Politik bzw. nach dessen Tod behandeln, nehmen mindestens die Hälfte des
Bandes ein. Dem eigentlichen Inhalt kommt der Untertitel schon näher: Es geht
um die Christlichsoziale Partei in der erfolgreichsten Periode ihrer
Geschichte, die Boyer um 1930 mit dem Tod Ignaz Seipels enden lässt.
Einzuschränken ist, dass Boyer auch keine klassische Parteiengeschichte
geschrieben hat, denn sowohl der Blick über Wien hinaus auf die Länder als auch
wahlstatistische Analysen werden nur am Rande präsentiert: Im Zentrum stehen
einerseits Wien und andererseits die „großen Männer“ der Partei, in zweiter
Linie auch deren Ideologie und Programmatik.
Bevor Lueger die Bühne betritt, holt Boyer weit
aus: Seine Darstellung setzt ein mit der konstitutionellen Phase der
Habsburger-Monarchie ab den 1860er Jahren, die den Städten und Gemeinden eine gewisse
Autonomie und einen von ihnen selbst zu gestaltenden Raum zugestand. Die ersten
Profiteure dieser innenpolitischen Neuausrichtung waren die antiklerikal
eingestellten Liberalen als politische Vertreter des Groß- und
Bildungsbürgertums; ihre Herrschaft über die Stadt schien bis zum Aufstieg der
Christlichsozialen unangreifbar zu sein.
Zu den interessantesten Abschnitten des Buches
gehören jene, welche die anfangs kaum für möglich gehaltene Mobilisierung des
Wiener Kleinbürgertums – Hausherren, Händler, Handwerker und Ladenbesitzer –
zum Gegenstand haben. Als Nutznießer eines sukzessive ausgeweiteten Wahlrechts
gelang es dem mitreißenden Redner Lueger, genau diese Klientel mit einem auf
ihre Bedürfnisse zugeschnittenen, vor allem wirtschaftlichen und sozialen
Programm anzusprechen. Nachdem die Christlichsozialen zur stärksten Partei im
Gemeinderat geworden waren, erhielt Lueger schließlich 1897 die lange
verweigerte Zustimmung Kaiser Franz Josephs zu seiner Wahl zum Bürgermeister.
In weiterer Folge schildert Boyer, neben dem
bekannten Ausbau der städtischen Infrastruktur, mit welchen Mitteln Lueger ein
von Korruption und Vetternwirtschaft nicht freies, periodisch durch Skandale
und Skandälchen charakterisiertes, aber keineswegs erschüttertes Patronagesystem
errichtete, das ihn zum unumschränkten Herrn Wiens machte. Der bis ins
Pseudo-Religiöse reichenden Selbstinszenierung des Bürgermeisters widmet Boyer
viel Aufmerksamkeit. Nach dem weitgehenden Verschwinden der Liberalen um 1900
tauchten in Luegers letzten Lebensjahren die Sozialdemokraten als neue
Herausforderer auf; sie sollten dann 1919 Luegers Nachfolger als führende Kraft
Wiens beerben. Zuvor waren nicht nur Arbeiter mit dem Wahlrecht ausgestattet
worden; Luegers Stammklientel geriet außerdem zunehmend unter ökonomischen
Druck durch die rasant voranschreitende Industrialisierung, ein Problem, für
das die Christlichsozialen keine rechte Antwort fanden.
Diese Abschnitte bieten sowohl eine
Sozialgeschichte Wiens zur Zeit von Luegers politischem Wirken als auch eine
Analyse der auf ihn zentrierten personellen Netzwerke in der Führung seiner
Partei und deren Beziehung zum hohen wie niederen Klerus. Bei Luegers starker,
ja übermächtiger Persönlichkeit konnte sich naturgemäß kein Kronprinz
profilieren, was mit dazu beitrug, die Partei nach dem Tod ihres herausragenden
Führers in eine tiefe Krise zu stürzen, von der sie sich im Grunde nie mehr
erholte. In weiterer Folge widmet sich Boyer dem Wien des Ersten Weltkrieges:
Die massiven Versorgungsmängel wurden – zu Recht oder zu Unrecht – der im
Rathaus führenden Partei angelastet und so der Machtübergang auf die
Sozialdemokraten nach Kriegsende vorbereitet.
Das Schlusskapitel entfernt sich am weitesten vom
Titelhelden, indem es Ignaz Seipel als (nur teilweise erfolgreichen) Reformator
der Christlichsozialen Partei wie auch als deren neuer Chef-Ideologe
porträtiert. Die Verbindung zu Lueger wird insoweit hergestellt, als Boyer
durchgehend darauf verweist, welches fatale Erbe Luegers Antisemitismus und
sein bei Seipel noch gesteigerter Hass auf die Sozialdemokraten für die
Christlichsozialen darstellten. Der Verfasser betont aber auch, dass dieser
Antisemitismus kaum ideologisch und schon gar nicht rassistisch, sondern
vielmehr rein taktisch motiviert gewesen sei. Für Boyer führt keine klare Linie
von Lueger zu Hitler, auch wenn letzterer sich in „Mein Kampf“ wiederholt auf
Lueger berief.
Boyers Werk basiert auf einer umfassenden
Literatur und wertet zudem eine unglaubliche Fülle großteils unbekannter bzw.
ungenutzter Quellen aus. Dieser Befund gilt weit stärker für die Abschnitte bis
zu Luegers Tod als für die nachfolgenden. Vor allem für die Jahre bis zu
Luegers Ernennung zum Bürgermeister Wiens 1897 bietet der Band zahlreiche neue
Informationen, ja er zeichnet detailreich einen Mikrokosmos der Wiener
politischen Landschaft. Die beiden Abschnitte (bis zu Luegers Tod und danach)
stehen allerdings in eher loser Verbindung zueinander. Erschwert wird die
Lektüre ferner dadurch, dass die – entgegen der angelsächsischen Tradition –
oftmals langen Anmerkungen wenig leserfreundlich in einen 100 Seiten füllenden
Endnotenteil ausgelagert wurden. Die Übersetzung Binders ist fast immer
angenehm und flüssig zu lesen, wenngleich sie manche englischen Ausdrücke allzu
wörtlich übersetzt und damit Begriffe verwendet, die im Deutschen
ungebräuchlich sind.
Trotz einiger kritischer Anmerkungen handelt es
sich um den bis dato wichtigsten Beitrag zum Gedenkjahr 2010, der Lueger
überaus kritisch sieht, aber auch dessen Leistungen und sein politisches Talent
angemessen würdigt und so den Mann in den Horizont seiner Zeit einordnet.
Graz Martin
Moll