Bohrer, Melanie, Der morsche Baum. Verkehrssicherheit und Fahrlässigkeit in der Rechtsprechung des Reichsgerichts (= Rechtsprechung - Materialien und Studien = Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte Frankfurt am Main Band 30). Klostermann, Frankfurt am Main 2010. XI, 311 S. Besprochen von Werner Schubert.
Im Mittelpunkt der von Ulrich Falk (Mannheim) betreuten Dissertation Melanie Bohrers steht die Entscheidung des VI. Zivilsenats des Reichsgerichts vom 30. 10. 1902, in der das Reichsgericht sich erstmals ausführlich mit der Haftung wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht befasste (vgl. auch das Urteil vom 7. 10. 1901 in JW 1901, 768). Mit diesem Urteil war die Verkehrssicherheit als deliktischer Schutzbereich allgemein auch für den Fall anerkannt, dass kein spezielles Schutzgesetz verletzt war (§ 823 Abs. 2 BGB), wie auch der Leitsatz zu dieser Entscheidung im Nachschlagewerk des Reichsgerichts hervorhebt: „Es gibt kein Schutzgesetz, das den Eigentümer oder Besitzer eines andern gefahrdrohenden Baumes eine Vorsorge besonders zur Pflicht macht; deshalb ist die Anwendung des § 823 Abs. 2 ausgeschlossen. Nach dem Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuchs, das in § 836 nur eine einzelne Anwendung dieses Grundsatzes enthält, ist der Eigentümer oder Besitzer einer Sache, z. B. eines Baumes, verpflichtet, die im Verkehr erforderliche Sorgfalt darauf zu verwenden, dass nicht andere durch die mangelhafte Beschaffenheit des Baumes Schaden erleiden.“ (W. Schubert/H. P. Glöckner, Nachschlagewerk des RG. BGB, Bd. 7, 1, Goldbach 1999, S. 266). In einem ersten Teil geht Bohrer auf die Verkehrspflichthaftung im Jahre 2009 ein (S. 1-32), die „als eine wuchernde Rechtsfigur“ erscheine, die der beständigen Begrenzung durch die Gerichte bedürfe (S. 31). Im ersten Kapitel des Hauptteils gibt Bohrer zunächst einen Überblick über die Gründe der Entscheidung von 1902 und über die bisherige, selten detaillierte Auseinandersetzung mit diesem Urteil. Es folgen ein Überblick über die Zuständigkeiten des VI. Senats und Kurzbiographien über dessen Mitglieder. In diesem Zusammenhang geht Bohrer näher auf das Senatsmitglied Christian David Rudolf Schlesinger, der Berichterstatter des am 30. 10. 1902 entschiedenen Rechtsstreits (vgl. die Prozessliste des VI. Senats für 1902 im Bundesarchiv Berlin) war, ein, dessen soziale Überlegungen sie anhand einer Schrift von 1869 über die rechtliche Zulässigkeit der Beschlagnahme des noch nicht verdienten Lohnes herleitet (vgl. S. 74 f., 223f.). Vollen Aufschluss über die Einstellung Schlesingers wird erst eine Analyse der von ihm als Berichterstatter begutachteten Rechtssachen bringen. Der umfangreichste Abschnitt des Werkes befasst sich mit der Methodik des Urteils (S. 87-198). Bohrer arbeitet heraus, dass das Urteil der pauschalen Vermutung widerspreche, „Judikate des Reichsgerichts nach 1900 seien in begriffsjuristischer oder gesetzespositivistischer Überzeugung der damaligen Richter ergangen“ (S. 267). Das Urteil zeige vielmehr „Berührungspunkte sowohl mit der Vorstellungswelt des Freirechts als auch mit dem Gedankengut der Interessenjurisprudenz“ (S. 267). Die gemeinrechtlich enge Auslegung der Lex Aquilia sei durch das „generalklauselartige Prinzip der Interessenabwägung“ ersetzt worden. Anhaltspunkte hierfür lassen sich bereits in der Regelung des Deliktsrechts im 1. BGB-Entwurf finden (S. 197ff.). S. 199-230 arbeitet Bohrer die soziale Dimension der Entscheidung von 1902 heraus. Sie vermutet, dass die Reichsgerichtsräte die rechtspolitischen Implikationen für ihr Urteil der Vorstellung Gottlieb Plancks über „die Begrenzung subjektiver Rechte im BGB zur Verwirklichung sozialer Rücksichten“ (S. 229) übernommen hätten, und weist ferner auf die Ansichten insbesondere der 1. BGB-Kommission und Windscheids über die richterliche Gestaltungsfreiheit hin, welche die Reichsrichter auch hinsichtlich der Etablierung der positiven Forderungsverletzung in den Jahren 1902 und 1903 (vgl. hierzu H. P. Glöckner, in: U. Falk/H. Mohnhaupt, Das BGB und seine Richter, Frankfurt a. M. 2000, S. 155ff.) berücksichtigten. Unter der Überschrift: „Ein morsches Haftungsmodell?“ (S. 231-266) geht Bohrer zunächst auf die restriktive Rechtsprechung für Verkehrspflichthaftung unmittelbar nach 1902 ein, die das Reichsgericht in späterer Zeit und auch der Bundesgerichtshof durch Ausdehnung der Sorgfaltsanforderungen kontinuierlich verschärften. Bohrer führt dies auf die nachträgliche Prognose hinsichtlich des Fahrlässigkeitsurteils zurück, ein Phänomen, welches die Kognitionspsychologie als hintsight bias (Rückschaufehler) bezeichnet. Bisher ist sich die Judikatur jedoch erst in Ansätzen eines verzerrten Fahrlässigkeitsurteils bewusst geworden. Das Werk wird abgeschlossen mit der fotomechanischen Wiedergabe des Abdrucks der Entscheidung von 1902 in RGZ, 373ff. und des vervielfältigten, in Kanzleischrift abgefassten Originalurteils sowie mit einem Personen- und Sachregister.
Insgesamt steht das Urteil von 1902 in der Kontinuität der Judikatur vor 1900, welche das Reichsgericht unter der Geltung des Bürgerlichen Gesetzbuchs nur selten nicht fortgeführt hat, ein Aspekt, den Bohrer vielleicht noch detaillierter hätte herausarbeiten können (vgl. S. 99ff.). Mit dem glänzend geschriebenen und nicht ohne Spannung zu lesenden Werk Bohrers liegt ein weiteres Beispiel dafür vor, dass die frühe Judikatur des Reichsgerichts mit ihrem immer wieder zu findenden Bekenntnis zu einer freien Stellung des Richters grundlegend war für die Handhabung des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Mit der seit der Wiedervereinigung allgemein zugänglich gewordenen archivalischen Überlieferung der RG-Materialien im Bundesarchiv Berlin und der vollständigen Sammlung der Urteile des Reichsgerichts in der Bibliothek des Bundesgerichtshofs besteht kein Hindernis mehr, weitere Arbeiten zur frühen Judikatur des Reichsgerichts, und zwar auch in Strafsachen, in Angriff zu nehmen.
Kiel |
Werner Schubert |