Biefang, Andreas, Die andere Seite der Macht. Reichstag und
Öffentlichkeit im „System Bismarck“ 1871-1890 (= Beiträge zur Geschichte des
Parlamentarismus und der politischen Parteien 156 = Parlament und
Öffentlichkeit 2). Droste, Düsseldorf 2009. 355 S., Abb. Besprochen von Martin
Moll.
Zeit und Person Otto von
Bismarcks (1815-1898) beschäftigen, ja faszinieren die historische Forschung
mehr als ein Jahrhundert nach dem Tod des Protagonisten nach wie vor. Längst
hat sich die Geschichtswissenschaft freilich von dem dichten Mythenkranz
gelöst, der sich schon zu Bismarcks Lebzeiten um den „Eisernen Kanzler“ zu
ranken begonnen hatte. Bei aller Anerkennung für das (vor allem außenpolitische)
Lebenswerk des „Reichsgründers“ werden seit geraumer Zeit vermehrt die
Defizite, Fehler und Versäumnisse seiner langen, erst 1890 beendeten
Kanzlerschaft in den Blick genommen. Hebt sich Bismarcks Außenpolitik auch aus
heutiger Sicht positiv von der seiner Nachfolger ab, so wird ihm auf
innenpolitischem Feld bescheinigt, Deutschlands Weg in eine – gemessen an
zeitgenössischen westeuropäischen Modellen – vollentwickelte Demokratie
nachhaltig verzögert zu haben. Die seit den 1960er Jahren populäre, wenngleich
nicht unumstrittene These von Deutschlands „Sonderweg“ in die Moderne ist ohne
Bismarck nicht denkbar.
Zu den Kernelementen dieser
Theorie gehört neben der über 1870/71 hinaus ungebrochenen Machtstellung der
„alten“ Eliten aus ostelbischen Junkern, Hochbürokratie und Militärs
insbesondere das Postulat eines in vieler Hinsicht unterentwickelten
Parteiensystems und, als Folge daraus, eines insgesamt schwachen Parlaments,
welches – so die Sonderweg-These – der monarchischen Exekutive bis 1918 nur
höchst unzulänglich Paroli bieten konnte. Die behauptete Impotenz von Parteien
und Reichstag muss umso mehr auffallen, als das Reichsparlament seit 1871 auf
Grundlage des allgemeinen und gleichen Männerwahlrechts gewählt wurde und seine
konstitutionellen Rechte (primär das Budgetrecht und die Mitwirkung an der
Gesetzgebung) nicht unbedeutend waren, ja dem damals in Europa Üblichen
entsprachen. Deshalb geht die Forschung für die zweiundhalb Jahrzehnte zwischen
Bismarcks erzwungenem Abgang 1890 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914
von einer steigenden Bedeutung des Reichstags aus; davor freilich habe ein
eindeutiges, ja krasses Übergewicht der vom Reichskanzler personifizierten
Exekutive bestanden.
Die empirische Basis
derartiger Urteile ist, gelinde gesagt, unzureichend, wie die luzide Einleitung
Andreas Biefangs verdeutlicht. Er plädiert mit guten Gründen dafür, die
knapp zwanzigjährige Amtszeit Bismarcks als Reichskanzler von 1871 bis 1890 als
eine sinnvoll abgrenzbare Epoche zu betrachten und für diese zu fragen, wie es
um die „andere Seite der Macht“ – die parlamentarische nämlich – bestellt war.
Zu den formalrechtlichen Aspekten des Wirkens des Reichstags, i. e. zu dessen
Kompetenzen und gesetzgeberischen Aktivitäten, scheint alles Wesentliche
bereits gesagt zu sein. Biefang widmet sich daher nur am Rande dieser
formellen oder institutionellen Seite der Macht und konzentriert sich auf das
bislang unterbelichtete Feld der informellen oder symbolischen Macht. Damit
befindet er sich im Mainstream neuerer Forschungen zur Kulturgeschichte der
Politik – ein lohnendes Forschungsgebiet, wie diese solide Studie eindrucksvoll
unter Beweis stellt.
Das 1871 gegründete Deutsche
Reich, dessen Mitgliedstaaten noch fünf Jahre zuvor gegeneinander Krieg geführt
hatten, bedurfte zu seiner Festigung und zur Integration seiner konfessionell, sozial, wirtschaftlich und politisch ziemlich
heterogenen Teile enormer symbolpolitischer Anstrengungen. Welche Rolle das
Reichsparlament bei diesem Unterfangen spielen konnte, spielen wollte und
tatsächlich spielte, ist die zentrale Fragestellung Biefangs. Der Autor
will untersuchen, welchen Beitrag zum Zusammenwachsen der vorerst nur auf dem
Papier geeinten Nation der Reichstag leistete und unter welchen
Rahmenbedingungen dieser Beitrag stand.
Biefang stellt nicht in Frage, dass dem Parlament „ohne
revolutionäre Schicksalsstunden“ anderswo selbstverständliche Anknüpfungspunkte
„für eine plausible Selbstinszenierung“ fehlten (S. 307); Krone und Militär als
die Sieger des Krieges gegen Frankreich taten sich da naturgemäß leichter,
zumal jegliche Reminiszenz an die demokratische Tradition der Frankfurter
Paulskirche von 1848/49 im neuen Reich Anathema war. Dennoch war der Reichstag
in den ersten 20 Jahren seiner Existenz auf vielen Gebieten, wenn auch
schaumgebremst, aktiv, um sich als eine (weitere) Verkörperung der geeinten
Nation öffentlich zu präsentieren. Neben der Architektur des Reichstagsgebäudes
(im Untersuchungszeitraum ein Provisorium in der Leipziger Straße, das schon
bald als Berliner Sehenswürdigkeit galt) spielte in erster Linie die damals
viel intensiver als heute gelesene Tages- und Wochenpresse eine wichtige
Mittlerrolle. Ihre intensive Berichterstattung lässt keinen Zweifel, dass die Reichstags-Sessionen
ein Topthema für die Zeitungen darstellten. Die Kontakte zwischen Parlament
bzw. Abgeordneten einerseits, Journalisten andererseits bilden denn auch einen
der Schwerpunkte dieser Studie.
In Summe gelingt es dem
Verfasser vorzüglich, dem Leser zu vermitteln, wie man sich das Leben der Mitgliederdes
Reichstags in Berlin und in ihren Wahlkreisen vorzustellen hat: Von deren
Reisetätigkeit, den Anwesenheiten in Plenum und Ausschüssen, der Rolle der sich
bildenden Fraktionen, der Dauer der Sessionen über die fehlenden Diäten, dem sozialen
Leben der Mandatare bis hin zu den Begegnungen mit Monarch und Kanzler und
darüber hinaus spannt sich der Bogen der von Biefang quellennah und
lebendig abgehandelten Aspekte, der auf die zu „Reichsfeinden“ gestempelten
Katholiken, Sozialdemokraten und nationalen Minderheiten nicht vergisst. Als
Quellen stützt sich der Verfasser – neben der Forschungsliteratur – auf
zeitgenössische Archivalien, Presseberichte, Briefe und Erinnerungen namhafter
Politiker sowie last, but not least auf erste Visualisierungen des
parlamentarischen Geschehens in der aufkommenden illustrierten Presse. Dem Band
sind zahlreiche überaus interessante Presse-Zeichnungen beigefügt, die nicht
nur illustrieren, sondern mit dem Text verbunden sind und jeweils knapp, aber
aussagekräftig interpretiert werden. Damit trägt Biefang der Erkenntnis
Rechnung, dass Symbolpolitik unter den Bedingungen des 19. Jahrhunderts sowohl
massenmedial als auch bereits visuell vermittelt wurde.
Der Verfasser vermeidet es
sorgfältig, Umfang und Reichweite der symbolpolitischen Aktivitäten des
Reichstags über Gebühr aufzublähen; in Summe laufen seine Befunde darauf
hinaus, dass das Parlament erste, noch schüchterne Gehversuche auf einem erst
später zur vollen Entfaltung gelangenden Terrain unternahm. Diese Schritte
waren aber doch weitaus bedeutsamer, als bislang angenommen. Zu diesem Fazit
gelangt Biefang auf überzeugende Weise, indem er weniger das legislative
Prozedere im Hohen Haus als vielmehr dessen mediale Vermittlung bzw. die
vielfältigen Berührungspunkte zwischen Parlament und politisch interessierter
Öffentlichkeit beleuchtet. Die hier nach Kenntnis des Rezensenten erstmals
dargestellten Besichtigungsreisen der Abgeordneten sind ein sprechendes
Beispiel für diesen innovativen Zugang, der belegt, dass viele landläufig erst
mit der Wilhelminischen Epoche assoziierte Phänomene wie die Flottenpolitik
unübersehbare Vorläufer in der Bismarck-Zeit hatten. Bei allen Schwankungen im
Zeitverlauf musste die Exekutive (Monarch, Kanzler und Reichsleitung) doch in
erheblichem und insgesamt zunehmendem Maße auf die Volksvertretung Bedacht
nehmen – in expliziter Frontstellung gegen sie, so Biefang, ging
praktisch nichts mehr. Als der gealterte Bismarck dies nicht einsehen wollte
und sich dementsprechend in eine Sackgasse manövriert hatte, musste er seinen
Hut nehmen. Dem Reichstag gelang es somit, sich wenigstens partiell als
nationaler Akteur mit eigenem Gewicht zu profilieren.
Biefangs im Rahmen der Kommission für Geschichte des
Parlamentarismus und der politischen Parteien erarbeitete Studie liefert wichtige
neue Erkenntnisse, die der Autor teils durch die Erschließung neuer Quellen,
teils durch originelle Fragen an bereits bekannte Quellen gewinnt. Dem
Rechtshistoriker wird vor Augen geführt, dass spätestens seit dem 19.
Jahrhundert Rechtsetzung kein rein juristischer Akt mehr war, sondern – mit
allen sich daraus ergebenden Implikationen – im öffentlichen Raum erfolgte.
Daraus resultieren vielfältige neue Forschungsansätze, die künftig auf Biefangs
Arbeit werden aufbauen können. Nicht unerwähnt soll die klare, präzise Sprache
dieser Studie bleiben, die kein Wort zu viel und keines zu wenig zu Papier
bringt. Der landauf, landab mit billigst gemachten Verlagsprodukten konfrontierte
Leser mag es kaum glauben, dass der Droste-Verlag ein im wortwörtlichen Sinn
schwergewichtiges, fest eingebundenes Werk auf extrem steifem Papier auf den
Markt gebracht hat. Ihm kann man nur möglichst viele interessierte Leser
wünschen.
Graz Martin Moll