Becker, Johann Nikolaus, Kritik der deutschen Reichsverfassung [Anonymer Verfasser], Erstes Bändchen Kritik der Regierungsform des deutschen Reichs, Zweites Bändchen Kritik der Kriegsverfassung des deutschen Reichs, Drittes Bändchen Kritik der staatswirtschaftlichen Verfasssung des deutschen Reichs (= Historia Scientiarum). Germanien 1796-1798, mit einer Einleitung hg. v. Burgdorf, Wolfgang. Olms/Weidmann, Hildesheim 2009. LXXIV, 845 S. Besprochen von Arno Buschmann.

 

Lange Zeit war das in den Jahren 1796-1798 erstmals veröffentliche Werk nur als anonyme Kritik am Zustand der Reichsverfassung am Ende des alten Reiches bekannt, bevor es gelang, Johann Nikolaus Becker (1773-1809) als Verfasser zu ermitteln. Grundlage für diese Entdeckung waren Beckers eigene Aufzeichnungen „Fragmente aus dem Tagebuch eines reisenden Neufranken“, die er 1798 ebenfalls anonym erscheinen ließ und die zu den letzten Werken der sog. Wetzlarer Praktikantenliteratur zählen, in der angehende Juristen die Erlebnisse ihrer akademischen Studienreisen, namentlich ihrer Tätigkeit am Reichskammergericht, zu Papier brachten. Bekanntestes Beispiel dieser Literaturgattung ist Goethes „Werther“, in dem zwar in erster Linie von dessen stürmischer Liebe zu seiner Herzdame Lotte die Rede ist, in dem aber auch von den Erlebnissen am Reichskammgericht in Wetzlar berichtet wird und der deswegen von Becker zum Vorbild für seine eigenen Aufzeichnungen genommen wurde.

 

Bisher war Becker nur als Verfasser der „Aktenmäßigen Geschichte der Räuberbanden an beiden Ufern des Rheins“ bekannt, dessen erster Band er im Jahre 1804 veröffentlicht hatte. Die Darstellung beruhte auf eigener Kenntnis der Vorgänge, da Becker als französischer Friedensrichter im Département Mosel an den gerichtlichen Untersuchungen der von den Banden verübten Straftaten unmittelbar beteiligt war. Als deutscher Intellektueller zählte Becker, wie der Herausgeber in seiner Einleitung darlegt, zu den Sympathisanten der Französischen Revolution, ohne dass man ihn allerdings zu den deutschen Jakobinern würde rechnen können. Er war zweifelsohne ein deutscher Republikaner, der sich jedoch von den radikalen Vertretern dieser politischen Richtung dadurch unterschied, dass er die allmähliche Weiterentwicklung der Verfassung des Reiches befürwortete und nicht für deren Ersetzung durch das Modell der französischen Direktorialverfassung plädierte. In diesem Sinne sind auch seine Ausführungen in der „Kritik der deutschen Reichsverfassung“ zu verstehen, die nun erstmals in einem Neudruck vorliegen.

 

Der erste Band der Kritik ist im Wesentlichen einer Mängelanalyse der Reichsverfassung gewidmet, als deren Ausgangspunkt Becker das Staatsverständnis der Aufklärung, insbesondere deren Souveränitätslehre, dient. Danach ist Hauptzweck des Staates und Aufgabe eines jeden Souveräns die Erhaltung der Selbständigkeit des Staates und der Schutz der Rechte seiner Bürger und Untertanen. Im Deutschen Reich sei diese Aufgabe dem  Kaiser und den Reichsständen als Repräsentanten der einzelnen im Reich miteinander verbundenen deutschen Staaten übertragen. Das Reich sei keine Monarchie, sondern eine „Pantokratie“ der Repräsentanten der einzelnen miteinander verbundenen deutschen Staaten. Für Becker ergibt sich daraus eine Fülle von Vorschlägen für eine Reform der Reichsverfassung, die von ihm im Detail erläutert werden. Der zweite Band des Becker’schen Werkes betrifft die Kritik an der bestehenden Kriegsverfassung des Reiches und enthält neben einer Auseinandersetzung mit aktuellen Mängeln Vorschläge zur Reform der Rekrutierung, Organisation, Kommandostruktur und Versorgung eines Reichsheeres, dessen vornehmste Aufgabe von Becker in dem Schutz der Reichsgrenzen gesehen wird. Der letzte der drei Bände befasst sich mit der Kritik an der ökonomischen und finanziellen Organisation des Reiches und enthält auch hier detailreiche Reformvorschläge, die im Kern die Forderung nach einer Freiheit des Handels- und Warenverkehrs enthalten, die durch die oberste Gewalt im Reich garantiert werden müsste und die allein geeignet sei, den Wohlstand des Reiches und seiner Glieder sicherzustellen.

 

Ausführlich und kenntnisreich werden vom Herausgeber in der Einleitung Vorgeschichte, Vorbilder und Grundlagen von Beckers Kritik der deutschen Reichsverfassung erörtert und zu Recht deren Nähe zu Kant und seiner kritischen Philosophie hervorgehoben, deren Gedankenwelt in den Augen der zeitgenössischen Politik als eine Gefährdung von Bestand und Ordnung des Heiligen Römischen Reiches erscheinen musste. Nicht zuletzt aus diesem Grunde war es dem Verfasser der Kritik ratsam erschienen, das Werk anonym zu publizieren, um der Verfolgung durch die Mächtigen zu entgehen, leider mit der Folge, dass es danach weitgehend in Vergessenheit geriet. Umso mehr ist zu begrüßen, dass Wolfgang Burgdorf es aufgespürt, für die Forschung aufbereitet und der Verlag es in einer gediegenen Ausstattung herausgebracht hat.

 

Salzburg                                                                                 Arno Buschmann