Becht, Hans-Peter, Badischer Parlamentarismus 1819 bis 1870. Ein deutsches Parlament zwischen Reform und Reformation (= Handbuch der Geschichte des deutschen Parlamentarismus). Droste, Düsseldorf 2009. 933 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Der badische Frühparlamentarismus hat bereits bei den Zeitgenossen ein überregionales Interesse gefunden und nimmt auch in der Historiographie eine wichtige Stellung ein. Das Werk Bechts bringt erstmals eine Gesamtdarstellung der inneren und äußeren Entwicklung der parlamentarischen Institutionen Badens auch über die nachrevolutionäre Zeit bis 1870. Der Aufbau des Werkes ist grundsätzlich den für das „Handbuch der Geschichte des deutschen Parlamentarismus“ geltenden Standards verpflichtet. Auch wenn die bisher erschienenen Bände keine eigentlichen Kompendien sind, sondern auf eingehenden Grundlagenforschungen beruhen, so sollen sie doch „ein festes Informationsgerüst liefern, das insbesondere die Perspektive des Vergleichs“ eröffnet (S. 18). Im ersten Teil des Werkes geht es um die „normativen Grundlagen und ihre praktische Ausgestaltung“ des badischen Parlamentarismus im Untersuchungszeitraum (S. 20-300). Nach einem Überblick über die Ziele und Resultate der Verfassung von 1818 behandelt des Werk zunächst folgende Materien: Wahlrecht, Wahlen und Wahlkämpfe (S. 51ff.) sowie die Organisation der Zweiten Kammer, aus deren Gesamtheit durch Losentscheidung fünf Abteilungen ermittelt wurden, die wiederum die – in der Regel um Zusatzmitglieder erweiterten – Einzelkommissionen beschickten. Während über die Kommissionsverhandlungen keine Unterlagen überliefert sind, liegen die Protokolle über die Kammerverhandlungen einschließlich der Anlagen (Gesetzentwürfe, Kommissionsberichte, Petitionen, Adressen) für die Zeit bis 1849 in einer vollständigen Druckfassung vor. Ab 1850 wurden die Protokolle nur noch stark verkürzt gedruckt, so dass für weitere Details die handschriftlichen Protokolle heranzuziehen sind (S. 169f.). Hinzu kommt noch die ausführliche Darstellung der Kammerverhandlungen in der Presse. Es wäre nützlich gewesen, wenn Becht ein vollständiges Verzeichnis der gedruckten Landtagsverhandlungen und der Kammerpräsidenten gebracht hätte. Der vierte Abschnitt des ersten Teils befasst sich mit den Kompetenzen und Gestaltungsräumen der Zweiten Kammer (S. 200ff.; Routinepensum, Pseudo-Initiativrecht [Motionen, Anträge, Interpellationen, Anfragen], Petitionen als das plebizitäre Element). Nach einer „Sozialgeschichte“ der Abgeordneten (S. 267ff.) folgt ein Abschnitt über die Konstituierung, Entwicklung und Wirkungsweise der Abgeordnetengruppen, Fraktionen und Parteien (S. 281ff.).

 

Der zweite Hauptteil des Werkes (S. 301-817) – das „Herzstück“ der Darstellung (S. 18) – befasst sich in acht Abschnitten chronologisch mit den Wahlen zur Zweiten Kammer, den Arbeiten der Stände und ihrem Verhältnis zu den jeweiligen Regierungen. Es ist hier nicht der Ort, die Ergebnisse der primär politik-, sozial- und institutionengeschichtlichen Untersuchungen, die eine auf die Ständeversammlung konzentrierte politische Geschichte Badens zwischen 1818 und 1870 bringt, zu referieren und zu analysieren. Für die Gesetzgebungsgeschichte sind insbesondere die Landtage von 1831, 1839/40, 1843/45, 1847/49, 1861/62 und von 1863/65 von Interesse. Für die Geschichte des Verfassungsrechts und des öffentlichen Rechts sind vor allem die Geschäftsordnungen der Kammern, das Vereins- und Versammlungsrecht, die Gemeindeordnungen sowie die Schul- und Kirchengesetzgebung von Bedeutung. Für die Gesetzgebung zum Justiz- und Strafrecht bringen die Parlamentsverhandlungen zum Prozess-, Straf- und Justizrecht wichtige Materialien. Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang die liberalen Zivilprozessordnungen von 1831, 1851 und 1864 (hierzu W. Schubert, Prozess-Ordnung in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten für das Großherzogtum Baden von 1851 und 1864, Goldbach 1997; Angelika Scheifele, Zivilprozessrecht in Baden 1803 bis 1864, Diss. Konstanz 2009), welch letztere teilweise Vorbild für die Zivilprozessordnung des Deutschen Reichs von 1877 war. Die Strafprozessordnung, das Strafgesetzbuch und das Gerichtsverfassungsgesetz von 1845, die jedoch erst in der Folgezeit in Kraft traten, brachten das „fortschrittlichste Strafrechtssystem“, das es „bis dahin im Bereich des Deutschen Bundes gegeben hatte“ (S. 520; hierzu auch Rainer Schröder, Entwürfe für das Strafgesetzbuch für das Großherzogtum Baden, Frankfurt am Main 1989, S. VIIff.). Die umfangreiche Justizgesetzgebung des Landtags von 1847/49 hat Becht leider nur knapp behandelt (detaillierterer Überblick bei W. Schubert [Hrsg.], Verhandlungen der Stände-Versammlung des Großherzogtums Baden in den Jahren 1847 bis 1849, Bd. 1, Vaduz 1989, S. Vff.). Auch die Justizgesetze von 1864 hätten eine etwas ausführlichere Darstellung verdient (vgl. S. 766). Das Zivilrecht spielte in den Landtagsverhandlungen nur eine sehr untergeordnete Rolle, da Baden mit dem 1810 in einer eigenständigen Übersetzung mit Modifikationen rezipierten Code Napoléon eine umfassende Zivilrechtskodifikation besaß. Wiederholt beschäftigten sich die Kammern mit dem Eheschließungsrecht, für das erst 1870 die obligatorische Zivilehe maßgebend war. Das von den Ständen in der Session 1850/51 verabschiedete Gesetz vom 21. 2. 1851 über „die Ernährung unehelicher, von ihren Vätern nicht anerkannter Kinder“ legte dem unehelichen Vater, ohne dass dieser die Einrede des Mehrverkehrs erheben konnte, eine subsidiäre Unterhaltspflicht auf. Ziel dieses Gesetzes, durch welches das Verbot der recherche de la paternité gelockert wurde, war die Entlastung der Gemeinde von Sozialhilfeleistungen. Das Werk wird abgeschlossen mit einer Übersicht über die Fraktionen der Zweiten Kammer von 1831 und 1870. Hinzu kommen noch mehrere Tabellen im Verlauf der Darstellung, so über das Abstimmungsverhalten bei den sechs Entscheidungen zum Militäretat im Jahre 1823; hierzu hat Becht leider nicht die genaue Fassung der Anträge mitgeteilt, über die abgestimmt wurde (vgl. S. 354f.). Sehr zu bedauern ist, dass das Sachregister (S. 925ff.) „aus Platzgründen auf das Nötigste beschränkt bleiben“ musste.

 

Im zusammenfassenden Schlussteil (S. 818 ff.) hat Becht insbesondere die Unterscheidungsmerkmale herausgearbeitet, die Baden von den anderen deutschen Staaten vornehmlich im Vormärz unterschied. Hierzu gehörte vor allem die „fortschrittliche Rechtsstaatlichkeit“ seit Anfang der 30er Jahre des 19. Jahrhunderts und der Aufstieg des Liberalismus zur Staatsdoktrin mit dem Wechsel auf dem Karlsruher Thron Mitte der 1850er Jahre (S. 307ff.). Insgesamt vermittelt das Werk Bechts erstmals auf umfassende Weise dem Rechtshistoriker die politikgeschichtlichen Grundlagen des badischen Parlamentarismus und insbesondere die Funktionsweise der Kammern beim Zustandekommen von Gesetzen. Von dieser Sicht aus hat die Rechtsgeschichte Badens noch immer ein weites Aufgabenfeld vor sich.

 

Kiel

Werner Schubert