Bavendamm,
Dirk, Der junge Hitler. Korrekturen einer Biographie
1889-1914. Ares, Graz 2010. 592 S. 24 S. Bildteil. Besprochen von Martin Moll.
Was kann
man, so möchte man zu Beginn der Lektüre dieses dickleibigen Bandes fragen,
über Hitlers vielfach erforschte Kindheit und Jugend noch Neues herausfinden?
Sind nicht die wenigen für diese frühen Jahre von Hitlers Geburt 1889 bis zu
seinem Eintritt in die bayerische Armee als Kriegsfreiwilliger 1914
überlieferten Dokumente hundertfach gesichtet und interpretiert worden? Und
haben nicht alle bisherigen Biographen mit dem Mangel an Quellen zu hadern
gehabt? Bei Bavendamm ist es nicht anders, allen vollmundigen
Ankündigungen zum Trotz.
Wie der Titel
des hier zu besprechenden Bandes ausweist, geht es dem Verfasser um eine
Revision der gesamten bisherigen Forschung zu Hitlers Kindheit und Jugend. Dies
könnte entweder durch die Vorlage neu entdeckter Quellen oder durch eine
plausible Neu-Interpretation schon bekannten Materials geschehen. Keiner dieser
beiden theoretisch denkbaren Ansätze wird eingelöst. Denn trotz aller verbalen
Akrobatik kommt auch Bavendamm nicht um das Faktum herum, dass die
verlässlichen Quellen zu Hitlers Jugendjahren vor seiner Kriegsteilnahme rar
gesät sind. Wie der einleitende quellenkritische Abschnitt darlegt, handelt es
sich heute ebenso wie vor 50 oder 60 Jahren um eine Handvoll – obendrein
problematischer – Primärquellen, darunter die in den 1950er Jahren zu Papier
gebrachten Erinnerungen von Hitlers Jugendfreund August Kubizek und Hitlers
Schilderungen in seiner 1924/25 verfassten, vermeintlichen Bekenntnisschrift
„Mein Kampf“. Das alles war schon bisher bekannt; relevante neue Quellen hat Bavendamm
nicht aufgetan, wenngleich ihm ein entsprechendes Bemühen nicht abgesprochen
sein soll.
Teil I
„Geburt eines Traumes“ beschäftigt sich auf knapp 200 Seiten mit Hitlers
Familie, Kindheit und Jugend vornehmlich vor dessen Übersiedlung nach Wien 1907.
Ohne relevante Neuigkeiten in der Sache selbst, verdient die These des Autors
Erwähnung, wonach wesentliche Schritte von Hitlers politischer Sozialisation
schon vor 1907 in Oberösterreich erfolgt sein sollen. Bereits während seiner
Pubertät soll der spätere Diktator mithin den „Traum“ geboren haben, das
deutsche Volk, mit dem er sich identifizierte, vor allerlei Bedrohungen zu
retten.
Teil II,
ca. 150 Seiten lang, behandelt unter der Überschrift „Antipoden, Vorbilder,
Anreger“ insgesamt elf Männer, die Hitlers Denken in irgendeiner Weise
beeinflusst haben sollen; der Bogen spannt sich von Philosophen (Nietzsche,
Schopenhauer) über Musiker (Wagner, Mahler) und Literaten (Schiller, May) bis
zu Regenten und Politikern (Franz Joseph I., Bismarck, Lueger, Adler,
Schönerer). Ein Teil der Genannten starb bereits vor Hitlers Geburt, ein
anderer während seiner Kindheit, andere waren Hitlers Zeitgenossen. Eine
konkrete Rezeption durch den jungen Hitler ist so gut wie nie nachweisbar,
weshalb Bavendamm argumentiert, es reiche aus, dass deren Ideen
allgemein in der Luft gelegen hätten.
Im dritten
und letzten Abschnitt „Führer, Volk und Reich“ handelt der Autor eine bunte Palette
allerhand ideeller und materieller Themen ab (Persönlichkeit, Intellekt, Kunst,
der Volks- und Nationsbegriff, Religion, gefolgt von „Liebe, Ehe, Sexualität“,
danach Landschaft und Natur, Wirtschaft, Antisemitismus u. a.). Wiederum werden
Elemente der Diskurse um 1900 weitschweifig dargelegt, ohne dass sicher gesagt
werden kann, was davon damals zu Hitler durchdrang, denn Bavendamm
stützt sich erneut auf zum Teil viel spätere Zeugnisse, neben „Mein Kampf“ auch
Hitlers Monologe aus den Jahren 1941/1942.
Der rote
Faden dieses langatmigen und redundanten Buches ist nicht die Korrektur
bisheriger Hitler-Biographien. Charakteristisch ist vielmehr die
oberlehrerhafte Kritik des Autors an früheren Arbeiten, insbesondere an jenen
Brigitte Hamanns, über die Bavendamm feststellt: „Es könnte sein – aber
es könnte auch nicht sein. Hieb- und stichfeste Beweise bleibt die Historikerin
schuldig“ (S. 487). Nichts könnte die Verfahrensweise des Autors treffender
beschreiben als dieses Verdikt, das auf ihn selbst zurückfällt. Er entwickelt
gewiss viele interessante Gedanken und liefert ein geistesgeschichtliches
Panorama des fin de siècle, dessen einzelne Bestandteile freilich nur auf Basis
von Vermutungen („es könnte sein“, „es ist nicht ausgeschlossen, dass“ usw.)
mit dem jungen Hitler in eine Beziehung gebracht werden. Hätte dieser übrigens
all das aufgenommen und verarbeitet, was Bavendamm ausbreitet, so muss
es sich bei ihm um ein frühreifes philosophisches Genie gehandelt haben.
Zu den
grundsätzlichen methodischen Problemen des Spekulierens und Rückprojizierens
viel späterer (Selbst-)Aussagen kommt noch die sehr selektive Auswertung der
Sekundärliteratur hinzu. Michael Wladikas grundlegende Studie „Hitlers
Vätergeneration“ von 2005 hat der Autor weder rezipiert noch in die
Bibliographie aufgenommen. Von mangelnder Sorgfalt zeugen ferner die
zahlreichen sachlichen und Datierungsfehler (Immanuel Kant lebte in diesem Buch
an der Wende vom 17. zum 18. Jh.; Franz Joseph I. regierte von 1848-1916, bei Bavendamm
„fast 60 Jahre“; die preußische Erhebung gegen Napoleon erfolgte bei ihm 1815
anstatt 1813; an anderer Stelle wurde 1913 bereits die 200. Wiederkehr der
Leipziger Völkerschlacht gefeiert usw.). Andere Irrtümer des 1938 geborenen
Verfassers, der früher als Zeitungs- und Fernsehredakteur tätig war, sind eher
erheiternd, wie etwa der Ausdruck von fünf Himmelsrichtungen oder die
Behauptung, aus Sicht der Österreicher seien die Preußen die Rivalen „jenseits
der Donau“ gewesen (S. 230, 234).
Im
Faktenteil bietet das Buch so gut wie keine neuen Erkenntnisse, schon gar nicht
solche von Relevanz. Die langen geistesgeschichtlichen Abschnitte rechtfertigt Bavendamm
mit seiner nirgendwo näher ausgeführten, höchst eigenwilligen These, Hitler
habe zwischen 1919 und 1945 insbesondere über die „Brücke der Hochkultur“ mit
dem deutschen Volk kommuniziert (S. 42). Hinsichtlich der Komponenten von
Hitlers Weltbild vor 1914 hat der Verfasser wohl zahlreiche neue Varianten,
Möglichkeiten und Kombinationen aufgezeigt, aber keine davon belegt, wie er
gegen Ende selbst konstatiert: „Dies alles sind Vermutungen, die sich nur auf
eine fragwürdige Quellenbasis stützen können“ (478). Dem ist nichts
hinzuzufügen.
Graz Martin
Moll