Albrecht, Henning, Antiliberalismus und Antisemitismus. Hermann Wagener und die preußischen Sozialkonservativen 1855-1873 (= Otto-von-Bismarck-Stiftung Wissenschaftliche Reihe 12). Schöningh, Paderborn 2010. 596 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Neben den preußischen „Altkonservativen“ bildeten die Sozialkonservativen, die keine eigene Partei hervorgebracht haben, einen Flügel dieser Partei im Umfeld Hermann Wageners (1815-1889), der als der einflussreichste Ideengeber und Organisator der Sozialkonservativen angesehen werden kann. Wagener war aus dem preußischen Justizdienst 1848 wegen seiner konservativen Haltung vom damaligen Justizminister Bornemann zur Disposition gestellt worden (S. 56). Er war erster Chefredakteur der Neuen Preußischen Zeitung (Kreuzzeitung) von 1848-1854, 1861-1873 der Berliner Revue sowie maßgebender Mitarbeiter an weiteren konservativen Zeitschriften und gehörte dem Preußischen Abgeordnetenhaus von 1853-1858 und von 1861-1870 sowie dem Reichstag von 1867-1873 an. Von 1866-1873 war er im preußischen Staatsministerium als Vortragender Rat Ratgeber Bismarcks in innen- und sozialpolitischen Fragen. Albrecht untersucht in seiner umfassenden Darstellung erstmals die vornehmlich von Wagener ausgehenden Konzepte der preußischen Sozialkonservativen und zeigt auf, dass letztere bereits mit allen Elementen eines „modernen“ Antisemitismus operierten, die nach bisherigen Forschungen erst der Zeit nach dem „Gründerkrach“ von 1873 zugeschrieben werden. Zwischen 1860 und 1872 bedienten sich die Sozialkonservativen um Wagener der Judenfeindschaft als Mittel der politischen Agitation, die ausgelöst wurde durch die liberale „Neue Ära“ von 1858. Die Sozialkonservativen wandten sich gegen den Liberalismus, der mit dem Judentum identifiziert wurde (S. 282). Gefordert wurde u. a. die „Errichtung einer christlich-solidarischen, nationalen, korporativ gegliederten Interessengemeinschaft in sozialkonservativem Sinne, die den ausbeutend-unsolidarischen, fremdstämmigen ,Juden’ gegenübergestellt wurde“ (S. 454). Das Programm der Sozialkonservativen, das sich vor allem an die Handwerkerschaft und die Landwirte wandte, lehnte 1861/62 eine Liberalisierung des Gewerberechts ab (S. 443ff.) und wandte sich später gegen die konfessionslose Schule und die Einführung der Zivilehe (S. 505). Insgesamt konzentriert sich Albrecht auf die Analyse der antisemitischen Agitation in den Schriften der Sozialkonservativen bis 1873. Eine wichtige Quelle bildet in diesem Zusammenhang das von Wagener herausgegebene „Staats- und Gesellschaftslexikon“ (1859-1867; 23 Bde.; Nachweis der ausgewerteten Artikel S. 543ff.) neben dem preußischen Volksblatt (S. 200ff.) und dem Kalender des Preußischen Volksvereins (S. 408ff.). Die Inhalte der rechtspolitischen Forderungen und Parlamentsinitiativen der Sozialkonservativen beschreibt Albrecht entsprechend der Zielrichtung seiner Darstellung weitgehend nur summarisch. In dieser Hinsicht sind die rechtspolitischen Positionen und Forderungen der Sozialkonservativen für die Zeit zwischen 1856 und 1873 ein noch wenig erforschtes Gebiet der preußischen Rechtsgeschichte. Lediglich für die Zeit der Entstehung des Bürgerlichen Gesetzbuchs hat Petra Zrenner in ihrem Werk: „Die konservativen Parteien und die Entstehung des Bürgerlichen Gesetzbuchs“ (Berlin 2008; hierzu Schubert, ZRG GA 127, 758-761) die rechtspolitischen Positionen der Konservativen herausgearbeitet. Das hinsichtlich der Radikalität der antisemitischen Texte schon in den Jahren vor der Reichsgründung bedrückend zu lesende Werk Albrechts enthält wichtige Anregungen für die Erforschung der sozialkonservativen rechtspolitischen Forderungen zur Lösung der sozialen Frage, deren Entstehung „als Resultat des übermäßigen Gewinnstrebens jüdischer und liberaler Bevölkerungsgruppen“ dargestellt wurde (S. 292).

 

Insgesamt verdeutlicht die Darstellung Albrechtss, dass hinsichtlich der sozialpolitischen Forderungen der Sozialkonservativen deren eventuell antisemitische Stoßrichtung mitzubedenken ist.

 

Kiel

Werner Schubert