Akten des Reichskammergerichts im
Hauptstaatsarchiv Hannover. Hochstift Hildesheim und benachbarte Territorien
1495-1806, bearb. und eingel. v. Kauertz, Claudia, nach Vorarbeiten von Szabó,
Anikó/Wieczorek, Klemens (†), unter Mitarbeit und mit Indizes von Mahmens,
Sven, Teil 1 A–G, Teil 2 H–O, Teil 3 P–Z, Teil 4 Indizes. Hahn, Hannover
2009 (= Veröffentlichungen der Niedersächsischen Archivverwaltung. Das
Niedersächsische Landesarchiv und seine Bestände Band 1 = Inventar des
Reichskammergerichts 30). Hahnsche Buchhandlung, Hannover 2009. 1-769,
775-1860, 1865-2938, 2943-3429 S., graph. Darstell. Besprochen von Peter
Oestmann.
Mit einem vierbändigen monumentalen Wurf
eröffnet das Hauptstaatsarchiv Hannover eine neue Schriftenreihe mit gedruckten
Repertoriumsbänden. Der Auftakt hätte kaum besser gelingen können. Die
reichskammergerichtlichen Inventarbände sind Teil des inzwischen weitgehend
abgeschlossenen Verzeichnungsprojekts der Deutschen Forschungsgemeinschaft, das
seit den 1970er Jahren auf Veranlassung Bernhard Diestelkamps und anderer die
im 19. Jahrhundert zerrissenen Aktenbestände in einheitlich gegliederten
modernen Repertorien erschlossen hat.
Hannover hatte dabei doppelte Mühe, denn bereits
von ca. 1960 bis 1972 hatte Erich Weise ein maschinenschriftliches Findbuch
erarbeitet und dabei die Überlieferung nach den drei damals bestehenden
Regierungsbezirken Hannover, Hildesheim und Lüneburg in drei Unterabteilungen
gegliedert. Im Hinblick auf die DFG-Grundsätze mussten alle Akten nunmehr
nochmals verzeichnet werden, eine Arbeit, welche die Archivmitarbeiter von
1980-1982 und 2001-2004 leisteten. Da der Großteil der
Hannoveraner Akten aus dem ehemaligen Regierungsbezirk Hildesheim stammt, sind
die Hildesheimer Verzeichnungen jetzt vor den beiden anderen Teilbeständen im
Druck erschienen. Es handelt sich um 2164 Prozesse, die sich auf die ehemaligen
südniedersächsischen Territorien verteilen.
Das Repertorium beginnt mit einer
außergewöhnlich kundigen und sehr hilfreichen landesgeschichtlichen Einleitung.
Claudia Kauertz fasst das Verfahren am Reichskammergericht knapp zusammen und
geht dann auf die Überlieferungsgeschichte ein. Wertvoll sind vor allem
zahlreiche knappe Abrisse zur Verfassungs- und Justizgeschichte, darunter auch
einiger vergleichsweise schlecht erforschter Territorien: Fürstentum
Wolfenbüttel, Fürstentum Calenberg-Göttingen, Hochstift Hildesheim, Reichsstadt
Goslar, Fürstentum Grubenhagen, Herrschaft Plesse, Kurmainzisches
Untereichsfeld sowie Grafschaft Hohnstein. Sehr gute Literaturhinweise eröffnen
jedem Benutzer der Akten problemlos den Weg zum landesgeschichtlichen
Forschungsstand. Einige von den Archivaren für besonders wichtig gehaltene
Kammergerichtsprozesse werden in der Einleitung kurz vorgestellt. In der
Einschätzung der Reichskammergerichtsakten kann man Kauertz nur zustimmen. Die
Quellen geben Auskunft über alle rechtlichen Konflikte, die nicht innerhalb des
Territoriums gelöst werden konnten. Da dies gerade die besonders wichtigen
Auseinandersetzungen waren, spricht in der Tat viel dafür, dass man „die
wesentlichen strukturellen Wandlungsprozesse der Frühen Neuzeit“ (S. 9)
tatsächlich in den Akten nachvollziehen kann, vor allem die Staatswerdung der
Territorien mit der Verfestigung ihrer Gerichtsverfassung (S. 58). Die
Einleitung und auch die Inhaltsangaben zu den einzelnen Prozessen setzen
deshalb Akzente auch abseits rechtshistorischer Informationen. Das ist als
solches erfreulich und erhöht die Attraktivität des Archivbestandes für
Allgemeinhistoriker. Freilich sind auch die rechtshistorischen Kenntnisse der
Herausgeberin nicht immer hieb- und stichfest, etwa wenn sie meint, Rezess sei
die zeitgenössische Bezeichnung für einen außergerichtlichen Vergleich gewesen
(S. 21). Etwas unverständlich ist es auch, dass die Schilderung des
kammergerichtlichen Terminsystems sich normengschichtlich-brav an
zeitgenössische Gerichtsordnungen und die Dissertation Bettina Dicks anlehnt,
wo doch gerade die Akten zeigen, wie vielfältig und teilweise anders die
Gerichtspraxis aussah.
Die Titelaufnahmen sind ausführlicher als in den
für mehrere norddeutsche Bestände von Hans-Konrad Stein-Stegemann erstellten Repertorien. Als Rechshistoriker muss man
freilich aufpassen, weil der konkrete Streitgegenstand teilweise eher beiläufig
in die Nacherzählung des Lebenssachverhalts eingeflochten ist. Hilfreich ist
die Beifügung der Lebensdaten der beteiligten Parteien. Etwas unglücklich ist
allerdings die Unterscheidung von laufender Repertoriumsnummer und Bestellnummer,
zumal die Bestellnummer erst ganz am Ende der jeweiligen Titelaufnahme
erscheint. Umfangreiche Akten werden hierbei unter verschiedenen laufenden
Nummern und mit verschiedenen Teilbestellnummern verzeichnet. Ein verzwickter
Erbrechtsstreit in der Adelsfamilie von Brabeck aus dem 18. Jahrhundert ist
etwa mit nicht weniger als 35 Einzelnummern aufgeführt (lfd. Nr. 268-302).
Quantifizierungen aufgrund bloßer Arbeit mit dem Repertorium sind damit nur
sehr schwer möglich. Gewöhnungsbedürftig ist es auch, die Laufzeit des
kammergerichtlichen Verfahrens räumlich getrennt von der Laufzeit des
Ausgangsprozesses anzugeben. Diese Unübersichtlichkeit kann auch zu Fehlern
führen. Im erwähnten Fall Brabeck gibt das Repertorium 1769 für den
erstinstanzlichen Prozess und 1768 für das Appellationsverfahren an, was kaum
stimmen dürfte. Detailliert und wertvoll sind die Darin-Vermerke, die wichtige
Beweismittel, juristische Gutachten, Abschriften von Urkunden oder
Rechtsquellen gesondert auflisten (z. B. lfd. Nr. 810-811 mit zahlreichen
Abschriften von Quellen seit dem 12. Jahrhundert). Für Rechtshistoriker
unerlässlich sind Sachregister, Verzeichnis der Vorinstanzen sowie eine
Übersicht über die verschiedenen Prozessarten (S. 3155-3229). Vor allem für die
Erforschung des Hochstifts Hildesheim bereiten die vier Inventarbände die
Quellenlage vorbildlich auf. Mit 98,- Euro mag das Repertorium für einen
normalen Archivbenutzer grenzwertig teuer sein. Die Entscheidung für einen
Hardcovereinband und die Betreuung durch einen angesehenen Wissenschaftsverlag
machen aus den Findbüchern aber zugleich bibliophile Schmuckstücke. Auf die
noch ausstehenden Teilbände zu Lüneburg und Hannover darf man sich freuen.
Münster Peter
Oestmann