Zur Entstehung des modernen Minderheitenschutzes in Europa, hg. v. Pan, Christoph/Pfeil, Beate Sibylle (= Handbuch der europäischen Volksgruppen 3). Springer, Wien 2006. XI, 561 S. Besprochen von Ilse Reiter.

Minderheitenrechte in Europa, hg. v. Pan, Christoph/Pfeil, Beate Sibylle (= Handbuch der europäischen Volksgruppen 2), 2. Auflage. Springer, Wien 2006. VI, 722 S. Besprochen von Ilse Reiter.

 

Das Handbuch der europäischen Volksgruppen lag bislang in zwei Bänden, herausgegeben 2000 und 2003, vor. Während der erste Band eine Einführung in die Volksgruppenproblematik und den aktuellen Diskussionsstand zur Schaffung eines europäischen Minderheitenschutzes bot, setzte sich der zweite Band eine vergleichende Übersicht der Minderheitenrechte in den einzelnen europäischen Staaten in Form eines Nachschlagewerkes zum Ziel. Die Dynamik des europäischen Minderheitenschutzes brachte es freilich mit sich, bereits unmittelbar nach Abschluss der ersten Auflage eine Überarbeitung und Aktualisierung diesen zweiten Bandes in Angriff zu nehmen, welches Vorhaben im Rahmen eines EU-Projektes für das Südtiroler Volksgruppen-Institutes in Bozen durchgeführt wurde. Nach einer Einleitung, welche sich mit der empirischen Dimension der Minderheitenfrage, der existenziellen Gefährdung vieler Minderheiten, dem Minderheitenschutz als gesamteuropäischer Aufgabe sowie neuen Perspektiven des Volksgruppenschutzes auseinandersetzt, einem Methodenabschnitt sowie Tabellen und Diagrammen, welche zusammenfassend den Minderheitenschutz 2001 und 2006 vergleichen, folgen, wie schon in der ersten Auflage, die einzelnen Länderberichte. Auch diesmal wurden die einzelnen Staaten zwecks Vergleichbarkeit und einheitlicher Evaluierung der Ergebnisse unter Zugrundelegung derselben Kriterien analysiert, nämlich: Recht auf Identität und auf Nichtdiskriminierung, formelle Rechtsgleichheit, Recht auf Chancengleichheit, auf Gebrauch der Minderheitensprache, auf eigene Organisationen, Recht auf ungehinderte, auch grenzüberschreitende Kontakte, auf Medien in der Volksgruppensprache, auf politische Repräsentation, auf Autonomie, auf Mitbestimmung in eigenen Angelegenheiten und auf spezifischen Rechtsschutz. Als Datengrundlage dienten dabei vor allem die im Rahmen der Kontrollverfahren des Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten vom 1. Februar 1998 und der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen vom 1. März 1998 erstellten Staatsberichte, Stellungnahmen des Beratenden Ausschusses, Kommentare der betroffenen Staaten, Berichte der Sachverständigen und Empfehlungen des Ministerkomitees. Allen Länderuntersuchungen sind empirisch-quantitative Übersichten betreffend die jeweilige Bevölkerung und jeweiligen Minderheiten beigefügt. Mit der aktualisierten Auflage dieses Bandes liegt somit nicht nur eine Zeitaufnahme für das Jahr 2006 vor, sondern sie bietet in Zusammenschau mit der ersten Auflage auch einen Längsschnittvergleich über fünf Jahre und zeigt, welche Staaten ihren Minderheitenschutz in dieser Zeit mehr oder weniger deutlich verbessern konnten.

 

Parallel zur zweiten Auflage des zweiten Bandes war auch das Projekt einer Erforschung der historischen Wurzeln des modernen Minderheitenschutzes in Angriff genommen worden, welcher Aufgabe sich das Südtiroler Bildungszentrum – Forum zur Kultur- und Spracherhaltung (SBZ-Forum) widmete. Unter der wissenschaftlichen Leitung des Staatsrechtlers Peter Pernthalers wurde der vorliegende dritte Band des Volksgruppenhandbuches in grenzüberschreitender Zusammenarbeit von Fachleuten aus Österreich, Italien, Deutschland, der Schweiz, Schweden und Spanien erarbeitet. Da die Minderheitenfrage, so die Herausgeber, erst entstand, „als die Demokratie als alternatives Herrschaftssystem zum Absolutismus die politische Bühne betrat“ (S. IX), decken die 16 Beiträge den Zeitraum von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart ab. Vorangestellt ist ein Beitrag Pernthalers, der die Wurzeln des Minderheitenschutzes „bis in die Ursprünge des Menschenrechts zurückverfolgt“ (S. X). Pernthaler untersucht dabei das Verbot des Sklavenhandels, den Ursprung des völkerrechtlichen Minderheitenschutzes in religiösen Schutzrechten, den Einfluss grundrechtlichen Sprachen- und Nationalitätenschutzes auf die internationale Entwicklung, die Entwicklung des Grundsatzes der nationalen Selbstbestimmung im 19. Jahrhundert sowie des Minderheitenschutzes am Balkan. Darauf folgen Darstellungen des Nationalitätenrechtes in Österreich-Ungarn (Pernthaler), der Nationalitätenpolitik und Autonomie im Zarenreich sowie des Millet-Systems im Osmanischen Reich (beide Beiträge verfasst von Davide Zaffi), also Beiträge über die großen europäischen Vielvölkerstaaten, in denen sich die Gleichberechtigungsforderungen früh manifestierten und staatsrechtliche Lösungsansätze bereits im 19. Jahrhundert nach sich zogen. Mit seinem Beitrag über den Minderheitenschutz im Völkerbundsystem leitet Peter Hilpold dann zum 20. Jahrhundert über. Kurt Ebert analysiert den Nationalitäten- und Minderheitenschutz in der Sowjetunion auf verfassungsrechtlicher Ebene (also ohne dabei auf die von den 1930-er bis in die 1950-er Jahre erfolgenden Deportationen ganzer ethnischer Gruppen einzugehen), Malte Jaguttis und Stefan Oeter widmen sich der Volkstumspolitik und Volkstumsarbeit im nationalsozialistischen Staat, wobei sich hier differierende Bewertungen der Autoren hinsichtlich der klaren Unterscheidbarkeit bzw. Kontinuität der Volkstumspolitik in der Weimarer Republik und im „Dritten Reich“ zeigen. Im Anschluss folgen Untersuchungen von Völkerrechtlern bzw. Staatsrechtlern und Staatrechtlerinnen zu weiteren europäischen Ländern, nämlich von Daniel Thürer und Thomas Burri über das Sprachenrecht der Schweiz, von Anna Gamper über die Entstehung und Entwicklung des plurinationalen Mehr-Ebenen-Föderalismus in Belgien sowie über die Frage einer Renaissance der historischen Nationen in Großbritannien, von Stefan Hammer über das Recht der autochthonen Minderheiten in Österreich, von Davide Zaffi über die Entwicklung des Minderheitenschutzes in Italien, von Xabier Arzoz über die geschichtlichen Autonomien der Basken, Galizier und Katalanen als Beispiel eines multinationalen „Quasi-Föderalismus“ im Einheitsstaat sowie von Christina Johnsson über die Minderheiten und indigenen Völker in Skandinavien. Der Band wird inhaltlich abgerundet durch einen Beitrag Beate Sybille Pfeils über die Entwicklung des Minderheitenschutzes im Rahmen des Europarates und der KSZE/OSZE sowie Peter Hilpolds über die Minderheiten im Recht der Europäischen Union. Den Abschluss bilden Zusammenfassungen aller Beiträge in deutscher und italienischer Sprache. Die allesamt faktenreichen aber nichtsdestoweniger gut lesbaren Beiträge liefern durchwegs einen instruktiven Überblick über die jeweilig thematisierten Bereiche der Geschichte des europäischen Minderheitenrechtes bzw. Minderheitenschutzes.

 

Das Handbuch der europäischen Volksgruppen wird so auch mit der zweiten Auflage des 2. Bandes und mit seinem dritten Band dem Charakter eines fundierten und verständlichen Nachschlagewerkes gerecht. Wer immer sich mit der Rechtslage von Minderheiten beschäftigt, wird für den gewünschten Überblick und den Einstieg in die einschlägige Literatur dieses Werk heranziehen, das mit seiner länderübergreifenden Konzeption eine bisherige Lücke geschlossen hat. Es wird daher auch in keiner Bibliothek fehlen dürfen.

 

Wien                                                                                      Ilse Reiter