Wuttke, Jens, Konfliktvermeidung und Streitbeilegung in Familienrechtssachen in der DDR (= Wissenschaftliche Beiträge aus dem Tectum-Verlag, Reihe Rechtswissenschaften 19). Tectum, Marburg 2008. XXXV, 163 S. Besprochen von Wolfgang Pöggeler.

 

Unter der Ägide Hans Schlossers in Augsburg entstand diese schöne Dissertation zum Familienrecht der Deutschen Demokratischen Republik und trägt ein weiteres Mosaiksteinchen bei zur Rechtsgeschichte eines erst kürzlich untergegangenen Staates - eines Staates freilich, der nicht vom tradierten abendländischen Rechtsbegriff ausging, sondern das Experiment eines gänzlich der Politik dienenden Rechts versuchte. Methodisch nähert sich Wuttke seinem Gegenstand durch die Analyse der einschlägigen Gesetze und der juristischen Literatur der DDR. Er verkennt die Problematik dieses Ansatzes nicht. „Zu beachten bleibt“, so schreibt er, „dass die in der DDR veröffentlichten Beiträge und Entscheidungen vor allem der Lenkung der Rechtsprechung und als Anleitung für die in der Praxis tätigen Juristen dienten. Daher gibt die in Aufsätzen und Literatur veröffentlichte Meinung Einzelner fast ausschließlich auch die staatlich gewollte wieder. Kritik am System und einzelnen rechtlichen Regelungen ist hingegen allenfalls zwischen den Zeilen zu finden.“ Und ganz zu recht weist Wuttke darauf hin, dass auch staatliche Statistiken „gewissen Manipulationen unterworfen waren, die aus dem permanenten Zwang … herrührten, Erfolge vermelden zu müssen.“ Um einen wahrhaftigeren Eindruck von der Rechtspraxis zu bekommen, wirft der Autor daher auch einen Blick in die internen Papiere des Obersten Gerichtshofs und des Justizministeriums der DDR - Papiere, die heute im Berliner Bundesarchiv lagern.

 

Was ist der Zweck der Mühe? Erstens geht es um eine Gesamtdarstellung des Familienrechts und der Familienpolitik der DDR unter dem Gesichtspunkt der Vermeidung und Beilegung familiärer Konflikte; zweitens geht es um die allgemeinen Grenzen der Einflussnahmen eines Staates auf die Ehe; und drittens geht es auch um die Frage, ob wir heute von der Erfahrung in der DDR profitieren können. Indem Wuttke diese letztgenannte Frage aufwirft, gibt er sich als das Gegenteil eines kalten Kriegers zu erkennen. Diese freundliche Grundhaltung ist die weit überwiegende in der rechtshistorischen Aufarbeitung des Zivilrechts der DDR; und vielleicht ist sie auch die richtige, damit endlich vollständig zusammenwächst, was zusammengehört.

 

Die Gleichberechtigung der Frauen, die Gleichstellung nichtehelicher Kinder, die Abschaffung des Verschuldensprinzips im Scheidungsfall und die Beseitigung von patriarchalen Sonderrechten des Ehemannes waren schon bald nach der Staatsgründung der DDR in das positive sozialistische Recht inkorporiert worden; damit war das Familienrecht dort eine ganze Zeit lang moderner als das im Westen. – Der Begriff der „Familie“ war jedoch ideologisch gewaltig aufgeladen! Ihre Hauptfunktion sei es, einen Beitrag zu leisten zur Entwicklung jedes Familienmitglieds zu einer „sozialistischen Persönlichkeit“; der Familie obliege es außerdem, an der „Reproduktion der Arbeitskraft … mitzuwirken“. In der quasi amtlichen Neuen Justiz hieß es 1958: „Jede Ehescheidung“ hemme „den Menschen in seiner Arbeitskraft und damit unseren sozialistischen Aufbau.“ Dass Ehescheidungen zu verhindern waren, versteht sich vor diesem Hintergrund von selbst.

 

Welche Mittel und Wege versuchte die DDR, um dem Ziel der Stabilisierung der Ehen näher zu kommen? Nun, nicht erst im Scheidungsprozess kam der Familienrichter zum Einsatz, nein, er hatte außergerichtlich in Vorträgen und Aussprachen erzieherisch zu wirken, beispielsweise in den oberen Schulklassen, Berufsschulen, Jugendklubs, Lehrlingswohnheimen und Betrieben. Etwas gerichtsnäher war die Tätigkeit der Rechtsauskunftsstellen der Kreisgerichte. Wurde dort ein Ehekonflikt bekannt, so war es politisch erwünscht, dass „ohne Einleitung eines Verfahrens versucht wurde, die Ursachen des Konflikts mit Hilfe der Schöffen und anderer gesellschaftlicher Kräfte aufzudecken und zu deren Beseitigung beizutragen. Im Rahmen einer geduldigen Aussprache mit beiden Ehegatten sollte das Gemeinsame und nicht das Trennende in den Vordergrund gestellt werden.“ Unter dem Begriff „gesellschaftliche Kräfte“ verstand man vor allem Arbeitskollegen und Hausmitbewohner. Diese Außenstehenden wurden also mit dem Familienzwist vertraut gemacht und durften ihren Rat erteilen.

 

Kam es zu einem gerichtlichen Scheidungsverfahren, so galt das Prinzip der Erforschung der objektiven Wahrheit (über das uns kürzlich eine rechtshistorische Darstellung Torsten Reichs berichtete). Dieses Prinzip verlangte von den Gerichten, aus eigenem Antrieb nach den Ursachen der ehelichen Spannungen zu suchen, um die Möglichkeit einer Aussöhnung zu eruieren. Die Belehrung der Eheleute und des Publikums war eine wesentliche Funktion des Richters. Das galt auch für andere Instrumente, die die DDR erfand, um Ehescheidungen zu verhindern.

 

Der Blick auf einen kleinen Teil der staatlichen Instrumente mag hier ausreichen, um einen Eindruck vom Gegenstand der Arbeit Wuttkes zu vermitteln. Zu erwähnen ist aber noch, dass sich die Menschen in der DDR nicht so einfach erziehen und belehren ließen, wie Partei und Gerichte sich das vorstellten. Vielmehr stieg die Scheidungsrate mit den Jahren in dieselben Höhen wie im Westen Deutschlands, so dass es für die Obrigkeit Zeit wurde zu einer Umdeutung der Wirklichkeit: Man hielt es daher etwa seit Ende der 70er Jahre „für eine Errungenschaft des Sozialismus, dass es jedem freistand, sich aus einer ungünstigen Partnerschaft zu lösen.“ (Denselben Modernisierungsschub erlebten die westlichen Gesellschaften bekanntlich ganz ohne Sozialismus.)

 

Das Buch Wuttkes führt den im Westen oder den nach der Wende sozialisierten Juristen in eine ziemlich fremde und manchmal bizarre Welt; es gehört in jede Bibliothek zur neueren deutschen Rechtsgeschichte. - Bei manchem wird das Buch die Frage aufwerfen, ob nicht auch der Gesetzgeber des wiedervereinigten Deutschlands an der einen oder anderen Stelle etwas zu sehr erzieherisch auf den Bürger einwirkt. Die Menschen in der DDR haben mutig gezeigt, wie man damit umgehen muss, wenn der Bogen überspannt wird, indem sie der Obrigkeit entgegenriefen: Wir sind das Volk! Im Zivilrecht verbirgt sich dieser großartige Gedanke in der Privatautonomie – aber das ist bereits ein anderes Thema.

 

Berlin und Nemesnádudvar                                                     Wolfgang Pöggeler