Wittreck, Fabian, Nationalsozialistische Rechtslehre und Naturrecht. - Affinität und Aversion. Mohr (Siebeck), Tübingen 2008. V, 81 S. Besprochen von Hans-Michael Empell.
Die Untersuchung beruht auf der Antrittsvorlesung, die der Verfasser am 27. 1. 2008 an der juristischen Fakultät der Universität Münster gehalten hat. Er hat den Vortragstext nur in geringem Maße verändert, jedoch einen Anmerkungsapparat und ein Literaturverzeichnis hinzugefügt. Ausgangspunkt seiner Darlegungen ist die Feststellung, die von Gustav Radbruch im Jahre 1946 formulierte These, wonach der Positivismus „mit seiner Überzeugung ‚Gesetz ist Gesetz’ den deutschen Juristenstand wehrlos gemacht (hat) gegen Gesetze willkürlichen und verbrecherischen Inhalts“, bilde zwar die Gründungserzählung der bundesdeutschen Rechtsphilosophie, sei aber längst widerlegt. Der Nationalsozialismus habe den Positivismus vehement bekämpft und dezidiert nicht-positivistische Strategien eingesetzt, um seine verbrecherischen Ziele zu erreichen. Dies führt den Autor zu der Frage, ob es sich bei den unterschiedlichen Versatzstücken der NS-Rechtslehre (eine konsistente Rechtslehre habe der Nationalsozialismus nicht hervorgebracht) um eine Art Naturrecht handele. Das Resultat ist nicht eindeutig: Einerseits sei naturrechtliches Denken, sowohl das Vernunftrecht der Aufklärung als auch die neoscholastische, auf Thomas von Aquin zurückgehende, katholische Naturrechtslehre als universalistisch, nicht „völkisch“ abgelehnt worden. Andererseits habe man versucht, den NS-Staat naturrechtlich zu legitimieren, zum Beispiel Hans-Helmut Dietze in seinem 1936 erschienenen Werk „Naturrecht in der Gegenwart“. Vor allem aber ließen sich „Parallelen von nationalsozialistischer Rechtslehre und Naturrecht“ ausmachen, und zwar nicht nur in terminologischer Hinsicht (etwa in Wendungen wie „naturgesetzliches Recht“, „Natur der völkischen Gemeinschaft“), sondern auch in vergleichbaren Problemstellungen und Argumentationsfiguren. Im naturrechtlichen Denken sei zum Beispiel umstritten, ob naturrechtliche Prinzipien als solche geltendes Recht bilden oder ob sie durch den Gesetzgeber erst noch umzusetzen seien. Das Verhältnis der quasinaturrechtlichen Sätze der NS-Rechtslehre zum geltenden Recht sei ähnlich kontrovers diskutiert worden. Der Verfasser arbeitet zudem „funktionale Parallelen“ heraus: Die NS-Rechtslehre sei systemstabilisierend gewesen, indem sie den NS-Staat als „natürlich“ zu legitimieren versucht habe; zugleich habe sie auf Grund der Unbestimmtheit zentraler Begriffe einer Auflösung der Bindung an das Recht den Weg bereitet. Das Fazit des Autors lautet: Weder sei der Positivismus „schuld“ am Nationalsozialismus noch das Naturrecht. Keine rechtsphilosophische Lehre könne für sich in Anspruch nehmen, Palladium gegen den Unrechtsstaat zu sein, auch das Naturrecht nicht.
Die Abhandlung hat eine eindrucksvolle, klar gegliederte Analyse des rechtsphilosophischen Diskurses während der NS-Zeit zum Inhalt. Darüber hinaus ist sie als Einstieg in das Thema „Naturrecht – Positivismus“ zu empfehlen, gerade auch wegen der detaillierten Anmerkungen und des umfangreichen Literaturverzeichnisses.
Heidelberg Hans-Michael Empell