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Im Gerichtssaal 600 des Justizpalasts in Nürnberg eröffnete am 20. November 1945 der Engländer Sir Geoffrey Lawrence als Vorsitzender des internationalen Militärtribunals die Hauptverhandlung im Strafverfahren gegen 21 anwesende der ursprünglich 24 wegen Kriegsverbrechen angeklagten deutschen Nationalsozialisten. Am 21. November 1945 trug der Bundesrichter Robert Jackson als Chefankläger der Vereinigten Staaten von Amerika die Anklage vor. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit wurde politischen, militärischen und wirtschaftlichen Führern nach einem verlorenen Krieg vor einem internationalen Gericht wegen Verschwörung, Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit der Prozess gemacht.
In Nürnberg fand im Juli 2005 eine Rückkehr in den Saal 600 zum 60. Jahrestag der Nürnberger Prozesse gegen die deutschen Hauptkriegsverbrecher statt. Augenzeugen und Wissenschaftler legten insgesamt 33 Beiträge ausgehend von der geschichtlichen Entwicklung hin zum Nürnberger Prozess bis zu dessen Auswirkungen auf das moderne Völkerstrafrecht vor. Diese Reden und Ausarbeitungen sind im vorliegenden Sammelband in der Weise aufgenommen, dass zwecks Erleichterung des Zugangs jede Abhandlung entweder eine deutsche oder eine englische Zusammenfassung aufweist.
Nach der Danksagung führen die Herausgeber in das Werk ein. Danach stellten fünf Wissenschaftler die Interessen ihres Landes an dem Prozess dar. Dabei zeigt Raymond Brown, dass es Robert Jackson vor allem darum ging, die Angeklagten für den Angriffskrieg zur Verantwortung zu ziehen, David Cesarani, dass Großbritannien nur auf Druck von außen teilnahm, Hervé Ascensio, dass Frankreich besonders die auf seinem Gebiet verübten Verbrechen gesühnt sehen wollte, und Michael Bazyler, dass die Sowjetunion dem folgte und zugleich die von Josef Stalin befohlenen Massenverbrechen verschleiern wollte. Demgegenüber war nach Albin Eser in Deutschland die Ansicht weit verbreitet, dass der Prozess blanke Siegerjustiz war und einen Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot darstellte.
Der zweite Teil beleuchtet die Nürnberger Prozesse aus verschiedenen Perspektiven. An der Spitze steht dabei eine jüdische Interessenvertretung (Michael R. Marrus). Erfasst werden aber auch das Genozid (Donald Blexham), die Opfer (Sam Garkawe), die Kriegsverbrecher (Lawrence Douglas) und die Hauptkriegsverbrecher als Tyrannen (Whitney R. Harris).
Der dritte Teil stellt zivilisierte Völker grauenhaften Verbrechen gegenüber. Dabei verfolgt Herbert R. Reginbogin die Verbrechen gegen die Menschlichkeit von Leipzig nach Nürnberg und bietet Klaus Kastner einen Rückblick auf die NSDAP, Reichsparteitage und Rassengesetze. John Q. Barrett widmet sich unter der Kennzeichnung „ein guter Mann“ Robert Jackson, Rodger D. Citron dem Niedergang des Rechtsrealismus und der Wiedererstehung des Naturrechts.
Der vierte Teil behandelt die Nürnberger Folgeprozesse. Dazu gehören der Einsatzgruppen-Prozess (Benjamin Ferencz), der Mediziner-Prozess (Louise Harmon), der Juristenprozess gegen 16 Angeklagte, deren Strafen als beunruhigend mild eingestuft werden (Harry Reicher), und die gesamten Kriegsverbrecherprozesse in der amerikanisch besetzten Zone zwischen 1945 und 1947 (Lisa Yavnai). In diesem Zusammenhang kommt aber auch die Rolle der deutschen Industrie zur Sprache, die zum Übergang von der persönlichen strafrechtlichen Verantwortung zur gemeinsamen Entschädigungszahlung drängt (Roland Blank).
Teil 5 weitet den Blickwinkel auf die nationale Strafverfolgung in Deutschland, Israel, Australien und anderen Ländern aus. Dabei widmet sich Hinrich Rüping der Ahndung von NS-Taten in beiden deutschen Staaten nach 1945, Rebecca Wittmann der Normalisierung von NS-Kriegsverbrechen in der späteren Bundesrepublik. Gabriel Bachmann greift auf Israel, Greg James auf Australien aus.
Deutschlands Haltung zum Völkerstrafrecht betrachtet Claus Kress. Das Vermächtnis von Nürnberg gliedern Hans-Peter Kaul, Anne Bayefsky, Wanda M. Akin, Andreas Zimmermann, Dan Derby und Roger P. Alford subtil und facettenreich auf. Winfried Heinemann kehrt zum Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 zurück und Joachim Gauck vergleicht den Totalitarismus im dritten Reich mit dem Totalitarismus in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik.
Am Ende erzählt Robert Wolfson unter dem Titel Liberating Perspectives eine andere Geschichte. Sie führt zu sehr alten und doch immer wieder neuen Fragen. Möge der gesamte bewegende Band dazu beitragen, Antworten auf die grundlegende Frage zu finden, wie Menschenrechtsverbrecher für ihre Taten zur Verantwortung gezogen werden können, wenn es schon der Menschheit nicht gelingt, Verbrechen des Menschen gegen den Menschen insgesamt zu verhüten.
Innsbruck Gerhard Köbler