Teuscher, Simon, Erzähltes Recht. Lokale Herrschaft,
Verschriftlichung und Traditionsbildung im Spätmittelalter. Campus, Frankfurt
am Main 2007. 359 S. Besprochen von Lukas Gschwend.
Das vorliegende
Werk wurde von der philosophischen Fakultät der Universität Zürich 2005 als
Habilitationsschrift angenommen. Der Autor hat seit 2007 einen Lehrstuhl für
die Geschichte des Mittelalters an derselben Universität inne. Mit seiner
Studie liefert er gleichermaßen einen Beitrag zur Entstehung von
mikrostrukturellen Rechtsquellen im Spätmittelalter als auch zur Geschichte der
Verschriftlichung insbesondere als Aspekt der Entstehung und Festigung von
Herrschaft. Als Quellenmaterial dienen der Untersuchung hauptsächlich Weistümer
und Kundschaftsprotokolle in deutscher und französischer Sprache aus dem Gebiet
des heutigen Schweizer Mittellandes. Damit werden nicht nur Quellen aus
verschiedenen Sprachgebieten erfasst, sondern auch aus unterschiedlichen
Rechtstraditionen, nämlich alamannischer und burgundischer Prägung.
Der Autor setzt die
Rechtsverschriftlichung in Beziehung zur Herrschaftsorganisation und geht
insbesondere der Frage nach, „wie sich Formen der Festlegung, Aufzeichnung und
Umsetzung zuvor ungeschriebener Rechte im Lauf des Spätmittelalters
veränderten“ (S. 306). Er untersucht die Veränderungen des Rechtsverständnisses
auf mikrostruktureller Ebene und fokussiert dabei Prozess und Bedeutung der
Verschriftlichung des Rechts. Entgegen dem seit Jacob Grimm überlieferten
germanistischen Entwicklungsmodell, wonach im Mittelalter Recht hauptsächlich
althergebrachte Regeln und traditionelle Verhaltensmuster beinhaltete und erst
mit der Rezeption des römischen Rechts und der Rechtsverschriftlichung zum
Herrschaftsinstrument und Ordnungssystem wurde, knüpft Teuscher an neuere
Befunde an, wonach im Früh- und Hochmittelalter seltener von „gutem alten
Recht“ die Rede sei als im Spätmittelalter. Im Vordergrund seiner Betrachtung
steht daher die Problematik, wie sich die Formen der Festlegung, Aufzeichnung
und Umsetzung alten Rechts im Lauf des Spätmittelalters entwickelten. Dabei
unterscheidet er drei Prozesse: Im 13. bis 15 Jahrhundert veränderten sich die
institutionellen Rahmenbedingungen für die Ausübung, Verhandlung und
Aufzeichnung lokaler Rechte grundlegend. Insbesondere an der Peripherie von
Herrschaftskomplexen wurde Recht schriftlich aufgezeichnet. Im Lauf des
Spätmittelalters schufen die Akteure der Herrschaft zunehmend kohärente und
umfassendere Rechtsordnungen, was Teuscher vor allem gestützt auf die
Ausbreitung von Weistümern während des 14. und 15. Jahrhunderts nachweist. Die
Begründungsmuster für die Rechtsschöpfung wurden in einem weiteren Schritt prozesshaft
nachgeliefert. Der bloße Entstehungsbericht einzelner Normen reichte nicht mehr
für deren Legitimation. Vielmehr wurde nach der lange währenden, dauerhaften
Geltung des Normkomplexes gefragt. Daher beriefen sich spätmittelalterliche
Rechtsquellen stets auf großes Alter und über viele Generationen währende
Geltungsdauer. Der Autor überzeugt mit dieser Erklärung. Würde man die
Perspektive auf die Entstehung der Stammesrechte im Frühmittelalter erweitern,
könnte der Argumentationsstrang wohl noch weiter verstärkt werden.
Teuscher unterscheidet
zwei Befragungsverfahren zur Erhebung von Rechtsgewohnheiten im Rahmen der
Verschriftlichung und des Konsolidierungsprozesses der Herrschaft, nämlich die
Kundschaft und die Weisung an Dinggerichte. Die Kundschaftsverfahren
orientierten sich methodisch zunehmend an der Zeugenbefragung des kanonischen
Inquisitionsprozesses. Weisungen dienten weniger der durch die Weistümer in den
Vordergrund gerückten ritualisierten Erinnerungsfunktion, sondern waren
vielmehr das Ergebnis von Konfliktlösungsprozessen durch Ein(ig)ung.
In einem weiteren
Teil seiner Untersuchung behandelt der Autor den Umgang der Akteure mit ihren
Herrschaftsrechten. Er zeigt auf, wie Gewohnheiten und Rechte genetisch in
einem dialektischen Wechselwirkungsverhältnis stehen. Die gerichtliche
Festschreibung von Rechtsgewohnheiten soll Ordnung schaffen, eine Ordnung, die
ihren Ursprung im Lokalen nimmt und zunehmend die Herrschaftsorganisation auch
horizontal verfestigt. Erst allmählich entsteht im Spätmittelalter eine immer
deutlichere Vertikalität der aufstrebenden Territorialherrschaft.
In zwei weiteren
Hauptkapiteln analysiert Teuscher Kundschaftsaufzeichnungen nach Protokollier-
und Erzähltechniken sowie Weistümer als mikrokosmische Rechtsdarstellungen. Der
Autor macht deutlich, dass Weistümer die traditionalen gesellschaftlichen
Zustände keineswegs authentisch reflektieren, zumal diese nur einen Teil der
lokalrechtlich relevanten Normen beinhalten. Neben oder anstelle von Weistümern
dienen Privilegienbriefe, Recognitionsprotokolle oder Schiedsgerichtsurkunden.
Die Weistümer spielten jedoch für die Legitimation von Herrschaft und Recht
sowie für die Rechtsvereinheitlichung in konsolidierten Herrschaftskörpern eine
wichtige Rolle.
Das letzte
Hauptkapitel erörtert verschiedene Stile des Dokumentgebrauchs. Der Autor
untersucht Narrationsmerkmale und Ostentationsfunktionen und liefert eine
kurze, kritische Darstellung der im untersuchten Quellenraum gebräuchlichen
Kanzleipraktiken.
Rechtshistorische
Leser juristischer Provenienz werden sich – abgesehen von einzelnen
terminologischen Unklarheiten, wie etwa der mehr aus der Quellennomenklatur
geschöpften als systematisch begründeten Unterscheidung von Erbrecht und
Zivilrecht (S. 46, 62) – unwillkürlich fragen, weshalb Teuscher Jacob Grimms
Rechtsquellenforschung als weitgehend alleiniges Fundament der
rechtshistorischen Beschäftigung mit ungeschriebenen lokalen Rechtsregeln im
19. Jahrhundert zementiert. Die Verdienste der historischen Rechtsschule werden
dabei weitgehend ausgeblendet. Namentlich findet die Entwicklung der
schweizerischen Rechtsquellenforschung von Johann Caspar Bluntschli über Ulrich
Stutz, Andreas Heusler bis hin zu Eugen Huber so gut wie keine Erwähnung. Auch
die Skizzierung der Forschungsentwicklung von Grimm über Fritz Kern hin zu Jack
Goody und Michael Clanchy entspricht nicht der rechtswissenschaftlichen
Wahrnehmung, zumal Rechtsquellenexperten wie Hermann Rennefahrt, Karl Siegfried
Bader und Karl Kroeschell nur am Rande Erwähnung finden. Im Übrigen erweist
sich die Untersuchung aber auch für den rechtswissenschaftlich verankerten
Rechtshistoriker argumentativ als stringent und inhaltlich als plausibel.
Teuscher legt einen neuen und elementaren Baustein in das Gemäuer der
rechtshistorisch-mediävistischen Grundlagenforschung. Die Studie gehört
zweifellos gleichermaßen in die Handbibliothek des sich mit mittelalterlichen
lokalen Rechten befassenden Juristen wie des Mittelalterhistorikers. Sie wird
auf Jahrzehnte hinaus zum festen Bestandteil der Forschungsliteratur über
Weistümer und Verschriftlichung im deutschen Wissenschaftsraum gehören.
Sankt Gallen Lukas
Gschwend