Strafzweck
und Strafform zwischen religiöser und weltlicher Wertevermittlung, hg. v. Schulze,
Reiner/Vormbaum, Thomas, Schmidt, Christine D. u. a. (= Symbolische
Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme, Schriftenreihe des
Sonderforschungsbereichs 496, 25). Rhema, Münster 2008. 318 S. Besprochen von
Lukas Gschwend.
Der
Sammelband enthält insgesamt siebzehn Aufsätze, verfasst überwiegend von
deutschen Rechtshistorikern, welche den Wandel der Bedeutung der Strafe
insbesondere hinsichtlich ihrer formalen und inhaltlichen Funktion,
Legitimation unter besonderer Berücksichtigung der durch sie geschaffenen
Wertvermittlung untersuchen. Die Palette ist breit und mancher Streifzug führt über
die Grenzen des Generalthemas hinaus.
Peter
Schuster (Saarbrücken) behandelt mittels Quellen aus dem süddeutschen Raum
Wandel und Kontinuität von Strafformen in der Vormoderne. Das besondere
Augenmerk gilt dem Wandel in den Hinrichtungsritualen. Im Verlauf des 16.
Jahrhunderts verlieren die spätmittelalterlichen Traditionen an Gewicht. Die
Hinrichtung wird zunehmend religiös inszeniert, wobei eine Tendenz zur
Rationalisierung des obrigkeitlich angeordneten Tötens mitschwingt. Die
Gerichte beziehen Legitimation und Sinn durch die vermittelst der Strafe sicher
gestellten Verwirklichung göttlicher Gerechtigkeit. Mathias Schmoeckel (Bonn)
untersucht in seinem Beitrag „Metanoia. Die Reformation und der Strafzweck der
Besserung“ das Verhältnis zum Besserungsgedanken bei den Reformatoren Luther
und Calvin sowie bei Melanchthon und einzelnen Adepten Luthers. Er ergänzt
diese Betrachtung mit der Darstellung der Position einiger Juristen der frühen
Neuzeit, wie Danaeus, Oldendorp, Hotman, Damhouder und Althusius, bei dem er
ähnlich wie bei Grotius einen starken Einfluss Calvins feststellt. Die weit
ausblickende Betrachtung erstreckt sich sodann auch über die Werke von Hobbes,
Pufendorf, Thomasius und Wolff. Die ideengeschichtliche Analyse gelangt zum
Ergebnis, dass der Einfluss Calvins für den Humanisierungsprozess des
Strafrechts und den Durchbruch des Besserungsgedankens entscheidend war. Diese
Feststellung trägt zwar dem aktuellen Calvin-Jubiläum Rechnung, doch war
Calvins unmittelbarer Einfluss auf die Genfer Strafrechtspraxis in mancherlei
Hinsicht alles andere als human. Die Studien von Luigi Cajani (Rom) „Die
Tröstung der Todeskandidaten im päpstlichen Rom“, von James A. Sharpe (York) „The
Decline of Public Punishment in England, Sixteenth to Nineteenth Centuries: Law,
Public Opinion, and Modernity“ sowie von Barna Mezey (Budapest) „Der Kerker und
die Freiheitsstrafe im Strafsystem. Der symbolische Ausdruck der Funktionen der
Freiheitsstrafe“ zeigen vergleichend die zunehmende Bedeutung des
Besserungsgedankens im frühneuzeitlichen Strafvollzug des nicht
deutschsprachigen Auslandes, wobei bei Cajani nicht die irdische Besserung,
sondern die ideale Vorbereitung auf den justiziell erzwungenen Übergang in das
Jenseits untersucht wird. Hinrich Rüping liefert in seinem Beitrag zu Christian
Thomasius einen Abriss von dessen Straftheorie, welche vorwiegend utilitäre
Generalprävention beinhaltet. Hinsichtlich des Strafprozessrechts streicht
Rüping die letztlich fehlende Distanzierung von Thomasius gegenüber der Folter hervor.
Christine D. Schmidt erläutert am Beispiel der öffentlichen Kirchenbuße im 18.
Jahrhundert eine Straftheorie doppelter Herrschaftssicherung. Die in die
Rahmenhandlung des Gottesdienstbesuchs und der Messfeier eingebettete
Kirchenbuße diente dem Ausgleich innerhalb der Gemeinschaft und begründete
durch die dadurch inszenierte öffentliche Zustimmung zugleich deren
Legitimation. Schmidt kommt zum Ergebnis, dass nicht nur die Sendgerichte,
sondern auch die landesherrliche Gerichtsbarkeit durch die im öffentlichen
Strafverfahren kommunizierten Machtverhältnisse die eigene Herrschaft nicht nur
legitimierte, sondern auch für die Zukunft perpetuierte. Helga Schnabel-Schüle
befasst sich mit der Prangerstrafe. Sie erklärt die Wirkung der Ehrenstrafe vor
dem Hintergrund der Einschätzung derselben durch das jeweilige soziale Umfeld
und zeigt die daraus hervorgehende Inkompatibilität solcher Strafen mit einem
absoluten Gerechtigkeitsverständnis. Durch ihre dialogische Struktur sprengte
die Ehrenstrafe die Logik des frühneuzeitlichen Strafsystems. Hans Schlosser
befasst sich mit den Motiven des Wandels in den Erscheinungsformen und
Strafzwecken der Arbeitsstrafe. Das opus publicum war ursprünglich der
Regelfall der poena arbitraria, die Schlosser völlig zurecht nicht auf
die Verdachtsstrafe reduziert. Das allmähliche Zurücktreten des im 16.
Jahrhundert typischerweise als Galeerenstrafe ausgefällten opus publicum
und dessen Umgestaltung in eine im Zuchthaus zu absolvierende Arbeitsstrafe
seit dem 17. Jahrhundert findet Schlosser nicht nur im veränderten,
utilitaristischen Denken der Aufklärung, sondern auch im Rückgang der Nachfrage
nach Galeerensträflingen im Gefolge der Zurückdrängung der osmanischen
Vormachtstellung im östlichen Mittelmeer. Kurt Seelmann stellt seiner
Untersuchung zur symbolischen Kommunikation über die Legitimation von Strafe im
18. und frühen 19. Jahrhundert die Feststellung voran, dass der Wille Gottes im
18. Jahrhundert für die Straflegitimation nicht mehr ausreichte. Es werden
gestützt auf Hobbes, Locke, Blackstone, Diderot, Beccaria, Grotius, Pufendorf
und Wolff einzelne kontraktualistische Legitimationskonstruktionen der Strafe
im 18. Jahrhundert vorgestellt. Nach 1790 tritt die Vertragsmetapher zunehmend
in den Hintergrund. Stattdessen rücken der Präventionsgedanke (Feuerbach,
Grolman) bzw. Abbüßungskonzepte (Fichte) sowie absolute Vergeltungstheorien
(Kant) in den Brennpunkt der Strafrechtsdiskussion. In der Strafrechtsliteratur
des frühen 19. Jahrhunderts erkennt Seelmann einen „Trend zur Identifikation
von Strafzweck- und Straflegitimationslehren“, während die Vertragsmetapher für
die Strafbegründung weitgehend an Bedeutung verliert. Georg Steinberg
analysiert die sittliche Strafwürdigkeit als Rechtfertigung staatlichen
Strafens im Werk Kants. Er kommt zum Ergebnis, dass Kant keine ausführliche
apriorische Herleitung des Strafrechts liefere. Ein mit Zwangscharakter
ausgestattetes Strafrecht werde von Kant als vorstaatlich existent angenommen,
doch erfolge erst im Staat dessen Realisierbarkeit. Die Absolutheit des
Strafrechts ergibt sich daraus, dass es einzig der Wiederherstellung der
Rechtsordnung als solcher zu dienen habe. Andreas Roth zeigt in seinem Beitrag
„Die Sittlichkeitsdelikte zwischen Religion und Rationalität“ interessante
Entwicklungstendenzen seit dem späten 18. Jahrhundert auf. Damals werden
Sittlichkeitsdelikte unter dem Einfluss des aufgeklärten Rationalisierungsprozesses
zunehmend als Verstöße gegen Religion und Sittlichkeit gedeutet, wodurch eine
Tendenz zur Entkriminalisierung insbesondere im Bereich der Strafverfolgung des
Ehebruchs und der Homosexualität nicht nur in der Literatur beobachtet werden
kann. Nach 1820 erfolgt indessen eine Rekriminalisierung sittlich abweichenden
Verhaltens. Roth erklärt diese mit einer zunehmenden Vereinnahmung des
Strafrechts durch das öffentliche Recht und damit einer Instrumentalisierung
desselben zur Durchsetzung von bürgerlichen Ordnungsvorstellungen. Zwar wird
nicht mehr religiös argumentiert, doch stehen nun rationale Argumente zur Disziplinierung
der Sexualität zur Verfügung, etwa seuchenpolizeiliche Motive, welche eine dem
Rechtsgüterschutz dienende, wohl rechtsstaatlich nicht aber liberal begründete
strafrechtliche Verfolgung der Prostitution in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts fördern. Mit der Arbeitsstrafe steht dem rationalisierten Staat
ein scheinbar geeignetes Instrument zur Verfügung, um unerwünschte Abweichungen
zu korrigieren. Die rechtspolitische Diskussion verstärkt die beabsichtigte
Kommunikation bürgerlicher Sollvorstellungen. Karl Härter befasst sich mit
Praxis, Formen, Zwecken und Intentionen des Strafens zwischen Aufklärung und
Rheinbundreformen (1770-1815). Er streicht eine deutliche Säkularisierungs- und
eine weniger deutliche Humanisierungstendenz hervor, wobei dem
Generalpräventionsgedanken besondere Bedeutung zukommt. Der Ausbau der
Zuchthausstrafe in Kurmainz und Frankfurt führte vorerst zu keiner Reduktion
der Todesstrafen. Die Entwicklung lässt sich vielmehr als eine Intensivierung
der Strafverfolgung und eine Ausdifferenzierung der Strafarten beschreiben.
André Krischer legt einen umfangreichen Aufsatz über die Krise der Todesstrafe
in England 1750-1868 vor. Er erklärt diese mit einem Traditionsverlust und
einem zunehmend wahrgenommenen Sinndefizit um 1800. Die Reformen des
Strafprozesses in England nach 1730 hin zum adversarial trial und einer
Erweiterung des Öffentlichkeitsprinzips reduzierten das legitimatorische und
didaktische Potenzial der öffentlichen Hinrichtung. Das aus dem erneuerten
Prozess hervorgehende Urteil an sich verfügte über ausreichende Legitimität und
soziale Mitteilungskraft. Die dying speech und damit verbunden die
Kommunikation der erwünschten Konversion des Verurteilten hin zur Einsicht ins
Unrecht verlor zunehmend an Bedeutung. Die generalpräventive Wirkung von
Hinrichtungen als Spektakel wurde mehr und mehr in Frage gestellt, woraus
letztlich die öffentliche Todesstrafe nur noch als Relikt aus einer vergangenen
Epoche erscheinen musste. Nicola Willenberg befasst sich mit dem Wandel der Inszenierung
des Todesstrafe in Preußen im 19. Jahrhundert, insbesondere mit der Verlegung
der ihrem Wesen nach unmittelbar aus dem in Preußen erst 1805 abgeschafften
„Endlichen Rechtstag“ des alten Rechtsganges überlieferten, als „Theater des
Schreckens“ vorgeführten öffentlichen Hinrichtung in die nichtöffentlichen Höfe
von Justizbauten. Der Entwicklungsprozess verläuft von der Extramuran-Hinrichtung
zur Intramuran-Hinrichtung. Willenberg analysiert insbesondere die Schriften
des deutsch-amerikanischen Staats- und Politikwissenschafters Franz Lieber zu
Todesstrafe und Hinrichtung. Der im Verlauf der ersten Hälfte des 19.
Jahrhunderts sich vollziehende Paradigmenwechsel beruht auf ähnlichen Gründen
wie die Krise der Todesstrafe in England. Der Entzug der Hinrichtung aus der
öffentlichen Sichtbarkeit soll nach Lieber indessen keineswegs das Wissen der
Öffentlichkeit um die Hinrichtung relativieren. Das unmittelbare visuelle
Erleben soll abgelöst werden durch ein mittels Glockenschlag zum
Hinrichtungszeitpunkt gewecktes, auditiv motiviertes Erinnern. Schließlich
liefert Jürgen Martschukat einen eindrucksvollen Gegenwartsbezug mit einer
Studie über die Bedeutung von Geschwindigkeit und Verlässlichkeit in modernen
Hinrichtungsverfahren. Der Autor erkennt in der aktuellen Diskussion um
Hinrichtungstechniken in den USA verschiedene Parallelen zu jener
Auseinandersetzung, die um 1800 zur Einführung der Guillotine als
Hinrichtungswerkzeug in Frankreich führte. Innerhalb der US-amerikanischen
Strafrechtslehre und -praxis wird gegenwärtig weniger die Todesstrafe als
Kapitalsanktion grundsätzlich kritisiert, als vielmehr die Art der Durchführung
der Hinrichtung in Frage gestellt. Die heute üblichen letalen Gift-Injektionen,
so die viel beachtete Kritik, fügen dem Hinzurichtenden unter Umständen massive
Schmerzen zu, was wiederum im Widerspruch zu den vom Supreme Court gesetzten
Rahmenbedingungen für legale Hinrichtungen stehe.
Der
Sammelband enthält Aufsätze von sehr unterschiedlichem Innovationsgehalt. Nicht
immer stehen die Elemente der Kommunikation von Recht und die Wertevermittlung
so prominent im Erkenntnisbrennpunkt der einzelnen Studien, wie dies der
programmatische Titel vermuten lassen würde. Insgesamt liegt indessen ein
wissenschaftlich wertvoller, breit gefächerter und sehr aktueller Beitrag zur europäischen
Strafrechtsgeschichte vor, der in seiner Reichhaltigkeit vermutlich nicht auf
die verdiente Aufmerksamkeit stoßen wird.
Sankt
Gallen Lukas Gschwend