Segert, Dieter, Das 41. Jahr. Eine andere Geschichte der DDR. Böhlau, Wien 2009. 284 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Dieter Segert wurde in Salzwedel 1952 geboren. Er studierte in Berlin und in Moskau (Dr. phil.) und wurde am 1. November 1988 zum Parteisekretär der Sektion Philosophie der Humboldt-Universität Berlin gewählt, ohne dass er bis heute den Grund seiner Wahl begriffen hat oder haben will (S. 146). Damit eröffnete sich ihm neben manchem Anderen die Möglichkeit der Teilnahme an der Wende in der Deutschen Demokratischen Republik zwar nicht in der ersten, aber doch in einer verhältnismäßig vorderen Reihe.

 

Hierüber berichtet er vielleicht ziemlich offen unter Einfügung anschaulicher Bilder. Ausgangspunkt ist seine vollständige Sozialisation im deutschdemokratischen Sozialismus. Von hieraus bedauert er die tatsächliche Entwicklung, statt welcher er sich einen dritten Weg zwischen der vielleicht fehlerhaften Deutschen Demokratischen Republik und der mindestens ebenso fehlerhaften Bundesrepublik Deutschland in einem fehlerfreien Sozialismus gewünscht hätte.

 

Nach der Einführung mit Blätterfall und Mauerfall lässt er in einem ersten Teil sich die alte DDR regen. Dabei befasst er sich im zweiten Abschnitt des Buches mit den vergessenen Akteuren des Jahres 1889. Ein wenig wird mit Gerhard Schröder an der Tür zur Macht gerüttelt und ausführlich das vielleicht wagemutige Entstehen eines Sozialismusprojekts an der Humboldt-Universität geschildert.

 

Ausgangspunkt für die Wende ist Michael Gorbatschow in der Sowjetunion. Was hat ihn wirklich bewegt, sich der von der Deutschen Demokratischen Republik bald abgelehnten Politik der Perestroika trotz aller mit ihr auch verbundenen Gefahren des persönlichen Scheiterns zu verschreiben? Die wünschenswerte innerste Antwort auf diese Frage scheint er selbst bisher nicht öffentlich gegeben zu haben.

 

Jedenfalls zeichnete sich wohl im Gefolge der gorbatschowschen Politik im Sommer und Herbst in der Deutschen Demokratischen Republik auch aus der nachträglich erkennbaren Innensicht eine Legitimationskrise der Herrschaft der Sozialistischen Einheitspartei ab. Während sich 1986 noch mehr als 90 Prozent der Lehrlinge mit ihrem Staat identifizierten (davon 48 Prozent stark), waren es im Mai 1988 nur noch weniger als 90 Prozent (davon 28 Prozent stark) und im Oktober 1988 nur noch 72 Prozent (davon nur noch 18 Prozent stark). Stimmten 1984 noch 92 der Befragten der Aussage zu „Der Sozialismus wird sich in der ganzen Welt durchsetzen“, so waren von diesem Ergebnis im Mai 1988 nur noch 42 Prozent überzeugt.

 

Der zweite Teil des nicht streng chronologisch aufgebauten, und auch nicht durch eine datenmäßig vollständige Kurzbiographie des in seiner Karriere durch die Wende geschädigten, 2005 nach Wien gelangten Verfassers ergänzten Werkes berichtet im Rahmen von Anfängen und Übergängen darüber, wie man an der Humboldt-Universität und in der neuen Deutschen Demokratischen Republik versucht hat, den Prozess der deutschen Einheit aus einer schwierigen Situation heraus (selbst anders) zu gestalten. Hier fragt der Verfasser, woher die Demokraten kamen, und schildert Säuberungsversuche (wie in der DDR insgesamt wurde nach der Verordnung der Modrow-Regierung vom 22. Februar 1990 den Mitarbeitern der Universität auf eigenen Wunsch ihre Personalakte ausgehändigt, damit sie diese von den unverständlich gewordenen Zeichen der alten Deutschen Demokratischen Republik [wie etwa harmlosen, Missverständnisse ermöglichenden Hinweisen auf Mitarbeit bei dem im Oktober 1989 91000 Angestellte und 175000 inoffizielle Mitarbeiter zählenden Staatssicherheitsdienst] reinigen konnten)und Selbsterneuerung. Danach wird eine Verfassung nur für die Abstellkammer hergestellt, währen irre Hoffnungen nur eine Nacht, verhandeln westdeutsche Eliten nur mit sich selbst, erhält das neue Deutschland eine zweifelhafte Mitgift und hat die deutsche Einheit einen Geburtsfehler.

 

Es ist richtig, dass die Ereignisse des Herbstes 1989 vorwiegend aus der Sicht des 3. Oktober 1990 geschrieben wurden und dass die Verlierer vielleicht oder vermutlich ungleich verteilt sind (z. B. 65 Prozent der C4-Professoren der Humboldt-Universität aus dem Westen, 35 Prozent aus dem Osten). Es ist wichtig, dass dies ausgeglichen und vielseitig ergänzt wird. Aber waren die Wolfgang Schnur, Ibrahim Böhme, Martin Kirchner (die im kurzen Personalregister auffälligerweise fehlen), Michael Brie, Dieter Klein, Heinrich Fink und andere von Lothar de Maizière und Manfred Stolpe bis Gregor Gysi und einfachen Parteisekretären an einer Universität, die lange Zeit im einsamen Nachdenken und in Gesprächen mit wenigen Freunden eine Antwort auf Zweifel suchten, ohne diese öffentlich zu äußern, die auf ihre langjährige Anwartschaft auf einen Trabi verzichteten und doch am Abend des 9. November mit ihrer Familie im Trabi in Richtung Westen fahren konnten, und die sich am Ende für wenig Geld noch schnell schöne Bücher kauften und im Dezember 1988 sich nicht (mehr) in das Präsidium der SED wählen ließen, sondern aus der SED austraten, wirklich stets alle so gut und rein oder so altruistisch und idealistisch, wie sie sich gern darstellten oder wie sie von Nahestehenden dargestellt wurden?

 

Innsbruck                                                        Gerhard Köbler