Scheer, Tamara, Zwischen Front und Heimat. Österreich-Ungarns Militärverwaltungen im
Ersten Weltkrieg (= Neue Forschungen zur ostmittel- und südosteuropäischen
Geschichte 2). Peter Lang, Frankfurt am Main 2009. 240 S. Besprochen von Martin
Moll.
Diese schmale Studie, welche die 2007 promovierte
Tamara Scheer im Rahmen eines einjährigen Verwaltungspraktikums an der
Landesverteidigungsakademie Wien erarbeitet hat, fügt sich zwar nahtlos in die
nun (verspätet) auch in Österreich boomende Weltkrieg-I-Forschung ein, sie
macht jedoch zugleich auf deren nach wie vor bestehende Defizite aufmerksam:
Obwohl Österreich-Ungarn zwischen 1915 und 1918 teils allein, teils in
Arbeitsteilung mit dem reichsdeutschen Verbündeten eine Reihe von fremden
Staaten bzw. zu diesen gehöriges Territorium unterschiedlich lange besetzt
hielt und folglich auch verwaltete, stammen die grundlegenden Arbeiten hierzu
aus den 1920er Jahren. Angeregt von der sogenannten Weltkriegsserie der
amerikanischen Carnegie-Stiftung, verfassten damals ehemalige Offiziere der
Besatzungsverwaltungen einschlägige Studien, die naturgemäß unter der
seinerzeitigen Begrenzung des Aktenzugangs sowie an der subjektiven Sicht ihrer
Autoren litten.
Danach geriet das Thema, von wenigen Ausnahmen
abgesehen, in Vergessenheit, woran sich auch nichts Grundlegendes änderte, als
in den 1990er Jahren vergleichende, beide Weltkriege in den Blick nehmende
Fragestellungen in den Vordergrund rückten. Für den „Großen Krieg“ 1914-1918
interessierten vorrangig die im Zuge der ersten Kampfhandlungen verübten
Gräueltaten an der Zivilbevölkerung (etwa in Belgien und Serbien), während der nachfolgende Besatzungsalltag im Hintergrund blieb.
Möglicherweise trug hieran auch die Zersplitterung der Aktenbestände eine
gewisse Mitschuld, verblieb doch – wie Scheer einleitend ausführt – ein
erheblicher Teil der von den k. u. k. Besatzungsverwaltungen produzierten
Dokumente nach Kriegsende in den jeweiligen Ländern. Immerhin bieten die im
Österreichischen Staatsarchiv in Wien erhaltenen Quellen eine mehr als
tragfähige Grundlage für eine erste Bestandsaufnahme der Okkupationsbehörden
und ihrer Politik. Scheer gelingt es durchaus, mehr als bloß eine Schneise in
das Dickicht dieses mitunter verwirrenden Themas zu schlagen.
Das der Einleitung folgende Kapitel 2 legt dar, um
welche Staaten bzw. Gebiete es sich überhaupt handelte: Das dem Zarenreich nach
den polnischen Teilungen zugeschlagene „Kongresspolen“, Serbien, Montenegro,
Albanien, den Großteil Rumäniens, die Ukraine sowie kleinere Gebiete in
Nordostitalien. Alle diese Territorien werden in ihrer geschichtlichen
Entwicklung bis 1914 knapp skizziert; sodann wird ihr Schicksal während des
Weltkrieges bis zu den Okkupationen durch die Mittelmächte erläutert. Die
genannten Landstriche wiesen hinsichtlich ihres wirtschaftlich-sozialen
Entwicklungsstandes enorme Unterschiede auf, wobei Norditalien einerseits,
Albanien und Montenegro andererseits die Pole der Skala darstellten. Der
Einmarsch der Mittelmächte bzw. deren Eroberung erfolgte zu divergierenden
Zeiten zwischen Frühjahr 1915 und Frühjahr 1918, folglich dauerten die
Besetzungen ungleich lange. Manchmal wurde Feindesland okkupiert (Serbien,
Montenegro, Rumänien, Italien), andere Gebiete galten als besetztes
Freundesland (Ukraine, Albanien); Kongresspolen stellt einen Sonderfall dar.
Noch schwieriger auf einen Nenner zu bringen ist die fast überall notwendige
Kooperation mit dem deutschen Verbündeten, die zwischen den Polen einer
Aufteilung besetzten Gebiets mit je eigenen Verwaltungsbehörden und einer Art
Kondominium (mit freilich abweichender Ausgestaltung der Machtverteilung im
Einzelfall) schwankte.
Dieses Kapitel legt die Grundlage für das
Verständnis der folgenden Abschnitte, weil es deutlich macht, um welche (wie
großen und von wie vielen Menschen welcher ethnischen Zusammensetzung)
okkupierten Territorien es eigentlich ging. Freilich wären in diesem
Zusammenhang einige Landkarten überaus nützlich gewesen!
Kapitel 3 umreißt sodann den organisatorischen
Aufbau der österreichisch-ungarischen Besatzungsverwaltungen, die im Regelfall
als Militärgeneralgouvernement mit einem regionalen Unterbau (Kreis-, Bezirks-,
Etappenstations- und Gemeindekommando) eingerichtet waren. In welchem Grad die
Macht der Militärs durch die ihnen zur Seite gestellten „Zivillandeskommissäre“
sowie durch außenpolitische Rücksichtnahmen begrenzt war, handelt Scheer anhand
der den Gouverneuren erteilten allgemeinen Richtlinien wie auch anhand der praktizierten
Politik ab. Wenig verwunderlich, dass nahezu jedes Gebiet einen Fall für sich
darstellte. Oberste Priorität hatte überall die Wiederherstellung bzw.
Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung im Besatzungsgebiet sowie dessen
personelle und wirtschaftliche Ausnützung für die Kriegführung der
Habsburgermonarchie. Unvermeidlicherweise gerieten diese Ziele sofort oder auf
längere Sicht in Konflikt mit der ebenfalls verfolgten Absicht, wenigstens in
einigen Regionen „hearts and minds“ der unterworfenen Zivilbevölkerung zu
gewinnen.
Scheer erläutert nicht nur grundlegend, wie die
Verantwortlichen ihre Aufgaben vor dem Hintergrund der damals geltenden
völkerrechtlichen Beschränkungen umsetzten und wie sie die – freilich oft
unscharfen – Vorgaben der Haager Landkriegsordnung respektierten oder
missachteten. Dieses Thema zieht sich wie ein roter Faden durch die in Kapitel
4 behandelten, konkreten Maßnahmen der Militärverwaltungen, wobei hier u. a.
die Befriedung des Landes, Strafmaßnahmen gegen Zivilisten, die Bekämpfung des
„Bandenwesens“ und die Wirtschaftspolitik (insbesondere die Förderung der
Landwirtschaft sowie der Arbeitseinsatz) im Vordergrund stehen. Ein
Unterkapitel untersucht, inwieweit die einheimische
Bevölkerung zur Mitarbeit an der Landesverwaltung herangezogen wurde bzw.
herangezogen werden konnte und welche Resultate dies, insbesondere auf
Gemeindeebene und bei der Aufstellung landeseigener Milizen bzw. Polizeikräfte,
zeitigte.
Eher en passant geht Scheer darauf ein, mit
welchen vorgefassten Stereotypen die Besatzer ins Land kamen – meist brachten
sie zutiefst negative Vorstellungen von „polnischer Wirtschaft“ oder
„balkanischer Unkultur“ mit. Bei aller Dominanz der Ziele Landesbefriedung und
ökonomische Ausbeutung gab es aber auch erstaunlich reichhaltige kulturelle
Ambitionen der Okkupanten, die Zeit und Muße fanden, sich des Kunstschutzes
oder der Förderung des Bildungswesens anzunehmen. Keineswegs alle dieser
unterschiedlich erfolgreichen Schritte sind stringent aus eigenen Interessen
der Okkupanten ableitbar: Kann man dies für den Kampf der Österreicher gegen
die Blutrache in Albanien noch vermuten, so fällt es schwer, eine
utilitaristische Motivation für Vorschriften zum Schutz von Reihern und Adlern
entlang der Donau zu entdecken. Wie derlei manchmal bizarre Beispiele
nahelegen, gingen die k. u. k. Behörden durchwegs mit einer, gelinde
ausgedrückt, großen Liebe zum Detail an ihr schwieriges Werk.
Abschließend bilanziert Scheer ihre Befunde, die
sie selbst als ambivalent einstuft, sowohl was die Intentionen als auch was die
Resultate der österreichischen Militärverwaltungen betrifft. Deren Einstellung
gegenüber ihren Schutzbefohlenen schwankte zwischen Herablassung, ja
Feindseligkeit einerseits und paternalistischen Weltverbesserungsambitionen
andererseits. Die Vertreter der zweiten Auffassung sahen sich wohl wirklich in
eine Mission als Kulturbringer eingebunden. Diese zwiespältige Bilanz regt zu
weiterführenden Vergleichen mit den NS-Besatzungsverwaltungen des Zweiten
Weltkriegs an, ein Thema, das Scheer bestenfalls streifen konnte. Wer
allerdings die in ihrer Studie ausgiebig zitierten Direktiven zur Bekämpfung
des „Bandenwesens“ aufmerksam liest, dem springen frappierende Parallelen zu
späteren NS-Methoden ins Auge: So wurde schon 1914 bis 1918 die rücksichtslose
Niederhaltung lokalen Widerstands u. a. durch die Forderung, für jeden
getöteten eigenen Soldaten 100 Geiseln oder Sühnegefangene zu exekutieren, zu
erreichen versucht, wenngleich derlei Vorgaben glücklicherweise selten
umgesetzt wurden.
Die einzige Kritik trifft nicht die Autorin,
sondern einen Verlag, der zwar für dieses schmale Bändchen 42,80 bzw. 44 Euro
(in Deutschland bzw. Österreich) verlangt, jedoch Landkarten eingespart und die
16 Abbildungen so klein gedruckt hat, dass man die Texte kaum lesen kann. Dies
sollte jedoch keinen an der Thematik Interessierten daran hindern, diese
übersichtliche, gut gegliederte und auf einer breiten Quellenbasis beruhende
Studie sorgfältig zu lesen. Sie bietet eine exzellente Einführung in einen
ebenso bedeutsamen wie wenig bearbeiteten Gegenstand und liefert nahezu auf
jeder Seite Anregungen für dringend nötige weitere Forschungen.
Graz Martin
Moll