Rüthers, Bernd, Verräter, Zufallshelden oder Gewissen der Nation? Facetten des Widerstandes in Deutschland. Mohr (Siebeck), Tübingen 2008. X, 239 S. Besprochen von Michael Stolleis.
Der Autor sagt es eingangs gleich selbst: Dies ist keine systematische und den Gegenstand erschöpfende historische Gesamtdarstellung, sondern ein auf persönlichen Interessen, Beobachtungen und entsprechenden Recherchen beruhender Essay, komponiert aus mehreren Einzelstudien. Es geht dem Konstanzer Zivilrechtler und Rechtstheoretiker um den Widerstand gegen politische und sonstige Pressionen im Nationalsozialismus und in der DDR, aber auch um den Komplex „1968“. Schon lange fasziniert ihn das Thema der Standfestigkeit von Intellektuellen in Diktaturen. Stets sind es nur wenige, die „Widerstand“ leisten. Die meisten arrangieren sich, so gut es eben geht, zumal wenn es keine generationenlang eingeübten freiheitlichen Bürgertugenden gibt. Für diejenigen, die diktatorische Regime gestützt und von ihnen profitiert haben, war „Widerstand“ ein Synonym für „Verrat“. Erst wenn die Regime zusammengebrochen und die politischen Maßstäbe wieder justiert sind, rückt der Widerstand langsam auf die „gute“ Seite. Nimmt man noch hinzu, dass auch in ungefährlichen rechtsstaatlichen Zeiten sich manche gerne einem „Widerstand“ zurechnen und damit ihrem Bürgerprotest höhere Weihen verleihen wollen, wird Widerstand zur schillernden Vokabel. Wer sie benutzt, hat auch eine eigene politische Position im Kopf. Nicht anders wäre es, sollte das 1968 ausgehandelte Widerstandsrecht in Art. 20 Abs. 4 des Grundgesetzes jemals in Anspruch genommen werden.
Rüthers skizziert zunächst diese Ausgangslage. Er bleibt dabei auf dem festen Boden seiner freiheitlichen, „antiideologischen“ Überzeugungen und seiner durchweg spürbaren Geringschätzung verführbarer Intellektueller. Die psychologische Frage, warum linke und rechte Heilsversprechen so viele kluge Leute faszinieren konnten, interessiert ihn nur ex negativo. Der Historiker freilich, dem es um die Erklärung jener Faszination geht, wird die Heilsversprechen als Antworten auf kollektive Defizite der Zeit ernster nehmen müssen, nicht zuletzt wegen der in ihnen steckenden idealistischen Potentiale. Gerade diejenigen, die Widerstand geleistet haben, waren zuvor oft gläubige Anhänger. Aus Messdienern sind manchmal Kirchenfeinde geworden. Rüthers betont das auch. Exemplarisch ist insofern der Fall des Adjutanten von Stauffenberg, Friedrich-Karl Klausing, hingerichtet nach dem 20. Juli 1944, sowie der Selbstmord seines Vaters, eines angesehenen Juraprofessors und überzeugten Nationalsozialisten, kurz vor dem Beginn des Prozesses gegen den Sohn. Rüthers analysiert sorgfältig die Abschiedsbriefe von Vater und Sohn und ordnet beide in die vielfarbige Welt des militärischen und kirchlichen Widerstands gegen den Nationalsozialismus ein. Eine „abenteuerliche, ja unglaubliche“ Geschichte eines kaum bekannten Juristen Hans Calmeyer schließt sich an, die Geschichte eines einsamen Helfers in der Todesmaschinerie der niederländischen Judendeportationen. 1972 machte die Stadt Osnabrück Calmeyer postum zum Ehrenbürger, 1992 erhielt er in Yad Vashem den Titel „Gerechter der Völker“.
In den folgenden knappen Abschnitten widmet sich Rüthers dem bekannten Faktum, dass sich die bundesdeutschen Gerichte, besetzt mit vielen „Ehemaligen“, sehr schwer getan haben, Widerstandshandlungen juristisch zu bewerten und daraus Konsequenzen zu ziehen. Eine Skizze zum Widerstand innerhalb der Wehrmacht schließt sich an, einschließlich der inzwischen auch öffentlich diskutierten Mitwirkung der Wehrmacht am Völkermord. Ein biographisches Gedenkblatt erinnert an den weitgehend vergessenen Publizisten Waldemar Gurian (1902-1954), den Schüler und späteren Gegner Carl Schmitts, zwei andere an den Kardinal von Galen und den Philosophen Josef Pieper. Immer wieder zeigt sich, dass „Widerstand“ viele Gesichter hat und dass sich die Maßstäbe nach Maßgabe der kollektiven Erinnerung verschieben. Das Thema Widerstand, nicht aber der Kontext, wird verlassen, wenn Rüthers der heutigen Intellektuellenprominenz, die sich nur schwer an ihre NSDAP-Mitgliedschaften erinnern will, den Spiegel vorhält. Ebenso gehört die den Band abschließende Durchmusterung der „1968er“ Vorgänge nicht wirklich zum Thema Widerstand. Es ist eher die Geschichte eines inflationären Missbrauchs des Wortes „Widerstand“, eine Geschichte verwirrter Begriffe, einer bis dahin unbekannten Gewaltbereitschaft, aber auch des feigen Zurückweichens ganzer Institutionen. Rüthers lässt noch einmal diese Szenen des damaligen „Tollhauses Universität“ (G. Gillessen) am Leser vorüberziehen. Es sind Szenen, auf denen Rüthers die Gegner von damals deutlich benennt. Auch er leistete im Bund Freiheit der Wissenschaft „Widerstand“. Am Ende führt er noch einmal vor, dass alle Arten des „zivilen Ungehorsams“ sich „Widerstand“ zu nennen pflegen, juristisch aber einfache Rechtsbrüche sind, die auch nicht über Art. 20 Abs. 4 GG gerechtfertigt werden können. Dass sie manchmal von moralisch edlen Motiven getragen sein mögen, steht auf einem ganz anderen Blatt. Wer die für ein freiheitliches Gemeinwesen konstitutive Trennung von Recht und Moral ernst nimmt, muss sich auch dazu durchringen, dem Widerstand als Rechtsbruch seine Qualität zu belassen und die Sanktion des Rechtssystems zu akzeptieren, mag sie auch moralisch verwerflich sein. Nur so ist es möglich, die vielfach bestraften kleinen und großen Widerstandshandlungen gegenüber diktatorischen Regimen im Rückblick zu ehren. Das eigentliche Zentrum dieses Kaleidoskops von Einzelstudien, Erinnerungen und Reflexionen ist Rüthers’ durch lebensgeschichtliche Erfahrung gehärtete Überzeugung, man solle das Gerade gerade, das Krumme krumm nennen. Aber mit der Optik ist es so eine Sache: Manche Linse zieht das Gerade krumm und das Krumme gerade.
Frankfurt am Main Michael Stolleis