Reulecke,
Martin, Gleichheit und Strafrecht im deutschen
Naturrecht des 18. und 19. Jahrhunderts (= Grundlagen der Rechtswissenschaft
9). Mohr (Siebeck), Tübingen 2007. XII, 391 S. Besprochen von Lukas Gschwend.
Das
hier zu besprechende Werk wurde im Wintersemester 2006/07 von der Rechts- und
Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth als
Dissertation angenommen. Der Autor zielt darauf ab, den naturrechtlich-rechtsphilosophischen
Diskurs über die Gleichheit im Strafrecht zwischen 1750 und 1850 zu
analysieren. Er will im Einzelnen die Diskurse um die rechtliche und politische
Funktion der Gleichheitsidee sowie betreffend die Theorie des staatlichen
Strafrechts miteinander in Beziehung setzen. Es geht also um die Frage der
Rechtsgleichheit der Untertanen bzw. Bürger gleichermassen wie um die Frage der
Gleichheit bzw. Proportion zwischen Tat und Strafe. Diese komplexe
Fragestellung entfaltet ihren besonderen Reiz vor dem historischen Hintergrund
des rationalen Naturrechts, des Spätabsolutismus, der Aufklärung, des liberalen
Vernunftrechts bei Kant und Hegel und deren frühen Adepten sowie der
Emanzipation des Bürgertums. Reulecke beschränkt sich dabei nicht auf den
Gleichheitsbegriff im Sinne der égalité der Rechtsunterworfenen, sondern prüft
auch den Diskurs der Gleichheit im Sinne von Proportionalität zwischen Delikt
und Strafe. Der Autor untersucht eine große Menge
naturrechtlich-rechtsphilosophischer Schriften aus dem Untersuchungszeitraum,
insbesondere Einzelabhandlungen, Lehrbücher und Systeme des Natur- und
Vernunftrechts sowie zeitgenössische Werke des Staats- und Strafrechts.
Der
Autor wählt als Ausgangspunkt seiner Darstellung das Verhältnis von Gleichheit
und Ungleichheit im „status naturalis“ und „status civilis“ bei
Hobbes unter Berücksichtigung von dessen Einfluss auf das deutsche Naturrecht,
wobei die Werke Samuel Pufendorfs besondere Beachtung finden. Reulecke
behandelt Grundsatzfragen von individueller Gleichheit und Staatsgründung und
geht auf die Lehre vom Gesellschaftsvertrag ein, wobei in der Studie vom „Staatsvertragsmodell“
die Rede ist. Im zweiten Kapitel untersucht er für denselben Zeitraum unter
besonderer Berücksichtigung der Werke von Thomasius, Pufendorf und Heineccius
sowie weiterer Exponenten des deutschen rationalen Naturrechts das Problem des
„Ebenmaßes“ von Tat und Strafe. Im folgenden Teil liefert der Verfasser eine
Darstellung des naturrechtlichen Diskurses des aufgeklärten Absolutismus – bei
Reulecke findet der Begriff „Reformabsolutismus“ Verwendung mit Bezug auf die
Bedeutung des Gemeinwohls für die Gleichheitsidee im Strafrecht. Er streicht
hervor, dass die aufgeklärten Naturrechtler im Spätabsolutismus – er stützt
sich u. a. auf die Strafrechtsreformer Globig und Huster – zwar zunehmend Raum
für individuelle Freiheit im „status civilis“ sahen, indessen die
Verwirklichung des Gemeinwohls weitgehend dem freien Ermessen des Herrschers
überlassen bleiben sollte, weshalb das deutsche Naturrecht des 18. Jahrhunderts
egalisierende Tendenzen und Bestrebungen zur Aufhebung der ständischen
Strukturen weitgehend ablehnte. Noch obwalteten Nützlichkeitsdenken und
Staatsräson auch im Strafrecht über den Anspruch einer objektiven Gleichheit
und reinen Gerechtigkeit. Demgegenüber stieß die Idee der natürlichen
Gleichheit bei den „Autoren des jüngeren Naturrechts“ (S. 259) – Reulecke zählt
dazu insbesondere die von Kants Rechtslehre geprägten Autoren, namentlich Feuerbach,
Kleinschrod, Grolman und Tittmann – weitgehend auf Akzeptanz. Die Bürger
begegneten einander als relativ gleichwertige Rechtssubjekte, der Staat verlor
als allmächtiger Gemeinwohlgarant zunehmend an Bedeutung. Das Individuum wurde
nun weniger als Teil des Ganzen gesehen. Für das Strafrecht hatte dies zur
Folge, dass die Strafe vermehrt nach dem Grundsatz des „quia peccatum est“
begründet und bemessen wurde. Individuelle Verantwortlichkeit verdrängte die
utilitaristische Instrumentalisierung des Bestraften. Allerdings waren die Auswirkungen
dieses allmählichen Paradigmenwechsels nicht so gravierend, wie man vermuten
könnte. Der Autor stellt treffend fest, dass sich die Proportionalität in
erster Linie an der Tat orientierte, nicht am Täter.
Das
letzte und umfangreichste Kapitel ist dem „Philosophischen Criminalrecht“ und
der Gleichheitsidee in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewidmet. Die
philosophische Wende geht einher mit einer Abkehr vom Naturrecht, die der Autor
weniger mit dem Durchbruch von Idealismus und Historismus als mit dem
Negativimage vieler Naturrechtler des 18. Jahrhunderts als angebliche Vordenker
der französischen Revolution erklärt.
Im
Vormärz rückt die Täterpersönlichkeit zunehmend in den Vordergrund, Feuerbachs
Straftheorie vom psychologischen Zwang verliert im gleichen Zug an Rückhalt.
Der Gleichheitsbegriff wird mehrschichtig im Sinne einer formalen Gleichheit
und einer Gleichheit, die Gleiches mit Gleichem und Ungleiches mit Ungleichem
misst. Das Standesprivileg der Festungsstrafe wird zunehmend kontrovers
diskutiert. Ein über Standesgrenzen hinaus greifendes, die Bürger gleich
behandelndes Strafrecht ist nicht nur Ausdruck eines rechtsstaatlichen
Selbstverständnisses, sondern widerspiegelt auch das moderne Verständnis eines
umfassenden Herrschaftsanspruchs des Staates. Noch die letzten Exponenten des
aufgeklärten Absolutismus, wie Joseph II., konnten es sich kaum leisten, Bauer
und Edelmann strafrechtlich gleich zu behandeln, und auch im Gefolge der
bürgerlichen Emanzipation blieb die Frage nach der Gleichheit eine Frage nach
der Proportionalität, welche Täter je nach Herkunft unterschiedlich wahrnimmt.
Die
vorliegende ideengeschichtliche Studie ist sauber gegliedert und hervorragend
recherchiert. Es gelingt dem Autor überzeugend, Komplexität in einem Maße zu
reduzieren, welches zu einem vertieften Verständnis verhilft, ohne die Vielfalt
des damaligen Diskurses zu verkürzen. Die Untersuchung überzeugt durch klare
Struktur und Argumentation. Der Rang als Standardwerk ist ihr sicher. Bisweilen
werfen jedoch ebendiese Bemühungen um eine möglichst einfache Struktur der
Analyse wieder neue Fragen auf. Die Entwicklung scheint mitunter etwas stark in
das rigide Kapitelraster hineingepresst, und über den französischen und
britischen Einfluss liest man wenig.
St.
Gallen Lukas
Gschwend